Von Jürgen Heimann
Peter Struck – Gott, Allah oder wer auch immer sollen ihn selig haben – ließ Deutschlands Sicherheit 2002 noch am Hindukusch verteidigen. Das ist jetzt fünfzehn Jahre her. Thomas de Maizière, einer seiner späteren Nachfolger im Amt des deutschen Wehrministers, ist da schon ein Stück weiter. Ins Innenressort gewechselt, schützt der CDU-Hardliner seit 2013 wacker und bestimmt die Stabilität und die gesellschaftliche Balance in unserer Republik, und zwar vor allem vor Überfremdung und vor ausländischen Schmarotzern. Insbesondere vor solchen aus Afghanistan, die sich anschicken, uns in grenzenloser, unstillbaren Gier die Fleischtöpfe leer zu futtern.
Als Minister Gnadenlos scheint de Maizière der richtige Mann zu sein, den Flüchtlingszuzug aus dem ebenso Bombenknall-geschüttelten wie korrupten, von Iran, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan, China und Pakistan flankierten südasiatischen Binnenstaat zu stoppen. Um nebenbei gleich auch denjenigen, die es, von dort kommend, bislang bis zu uns geschafft haben, die Hölle heiß zu machen. Aber es gilt vor allem auch jene, die im 5.110 Luftkilometer von Frankfurt entfernten Kabul bereits auf gepackten Koffern oder Plastiktüten sitzen, so einzuschüchtern, dass sie ihre Träume von einem vielleicht etwas sichereren Leben in Westeuropa ebenso beerdigen wie ihre tagtäglich von den Taliban, Warlords, lokalen Wehrsportgruppen, Stammes-Milizen, Al Qaida, dem IS, kriminellen Bürgerwehren oder der eigenen Armee gemeuchelten Angehörigen.
Was die hochgerüstete internationale Anti-Terror-Kriegsmaschinerie in jahrelangem verlustreichen Kampf nicht geschafft hat, Merkels Wachhund glückte es fast im Alleingang: Die krisengeschüttelte und vom Blut zigtausender Unschuldiger getränkte islamische Bananen-, pardon, Mohn-Republik zu einem sicheren Herkunftsland zu machen. Partiell zumindest.
Dass dem so ist, wird der Mann nicht müde zu verkünden. Keine Gelegenheit, bei der der Unions-Ministeriale nicht öffentlich darüber schwadroniert, wie befriedet dieses Paschtunistan inzwischen doch sei. Gut, das jetzt auch nicht überall. Aber in weiten Teilen eben doch, vor allem in den großen urbanen Zentren wie Kabul, Herat, Kandahar, Kundus oder Masar-i-Scharif. Dort könnten die Menschen relativ sorglos leben, ohne Gefahr zu laufen, einen fanatisierten, durchgeknallten Selbstmordattentäter, der den Keuschheits- gegen einen mit Koranversen bestickten Bombengürtel eingetauscht hat, unfreiwillig auf seiner beschwerlichen Reise nach Dschanna begleiten zu müssen. Die Lage hier, also dort, sagt de Maizière, sei „ausreichend kontrollierbar“, die Bedrohungssituation „allenfalls abstrakt“. Dann dauert es bestimmt auch nicht mehr lange, bis TUI, Neckermann und Co. die Gegend für ihre Pauschaltouristen entdecken.
Argumente so brüchig wie der Inhalt einer Porzellankiste
So ganz scheinen de Maizière und seine Brüder und Schwestern im Geiste diesem von ihnen beschworenen Frieden aber selbst nicht zu trauen. Als der Minister im Frühjahr 2016 Kabul besuchte, nahm er ein Bad in der Menge, einer ausschließlich aus hochbewaffneten Sicherheitskräften bestehenden. Dass der Gast aus Berlin Stahlhelm und eine schusssichere Kevlar-Weste trug, sah zwar lustig aus, war aber wohl weniger seinem Verständnis von modischem Chic geschuldet. Vorsicht ist schließlich die Mutter der Porzellankiste. Und genauso brüchig und fragil wie deren Inhalt sind die Argumente, mit denen sich der Minister die Lage vor Ort seitdem schön redet. Aber vielleicht war er gar nicht in Afghanistan, sondern ist irrtümlich in Kannitverstan gelandet. Weiß man’s?
Nee, war doch Kabul. Denn: Während des Besuchs des Deutschen sprengte sich nur wenige Kilometer von dessen Aufenthaltsort entfernt ein Selbstmordattentäter vor einer Polizeistation in die Luft. 20 Menschen starben, 29 weitere wurden verletzt. Aber vermutlich hat de Maizière auch diesen Knall nicht gehört. Als Terroristen am 10. November 2016 das deutsche Generalkonsulat in Masar-i-Scharif angriffen, dabei acht Menschen töteten und 130 verletzten, stritt der tapfere christdemokratische Krieger längst schon wieder an der Heimatfront in Berlin für Recht und Ordnung – und war somit weitab vom sprichwörtlichen Schuss. Aber was nicht sein darf, das nicht sein kann. Beide Zwischenfälle müssen unglückliche Ausrutscher gewesen sein und ändern natürlich nichts an der kompetenten und auf tiefgreifenden Analysen beruhenden Lagebeurteilung des strammen Politikers. Masar-i-Scharif, im Norden des Landes gelegen, ist mit knapp 268.000 Einwohnern die viertgrößte Klitsche des bergigen Countries und der Diktion de Maizières zufolge ein eigentlich recht sicherer Hort heimeliger Beschaulichkeit. Übersetzt bedeutet der Name der mehrheitlich von Tadschiken bewohnten Provinzhauptstadt übrigens „Wallfahrtsort des Edlen“. Da müssen die bombenden Turban-Killer irgendetwas falsch verstanden haben.
Die Blitz-Visite unseres Law & Order-Ministers am Khyber-Pass hatte natürlich keinen touristischen oder folkloristischen Hintergrund, sondern sollte die Verhandlungen mit der dortigen Regierung über ein Rücknahmeabkommen für Flüchtlinge beflügeln. Selbiges ist am 2. Oktober 2016 auch in Kraft getreten. Eine inhaltlich ähnliche Vereinbarung gibt es zudem zwischen der EU und Afghanistan, das laut „Transparency International“ weiterhin zu den korruptesten Ländern der Welt zählt. „Friedhof der Imperien” wird es seit den Zeiten Alexanders des Großen genannt. Sowohl die Truppen des British Empire als auch die Rote Armee haben diese (für sie schmerzliche) Erfahrung bereits machen müssen, lange vor den 45 an der „Operation Enduring Freedom“ (OEF) beteiligten Nationen, die dort 71.000 Soldaten in die Schlacht gegen den Terrorismus warfen. Unser Kontingent bestand übrigens aus 4.365 Mann. Davon kehrten 55 in mit der schwarz-rot-goldenen Flagge geschmückten Zinksärgen nach Hause zurück.
Schmutziger Deal: Milliardenschwerer Menschenhandel
Afghanistan mit seinen rund 33,3 Millionen Einwohnern ist ein klassischer „failed State“, ein auf allen Gebieten gescheiterter Staat, der die Kontrolle über sein Territorium längst verloren hat. (Einziger) Sinn und Zweck des erwähnten Gentlemen-Agreements war und ist es, den Aufnahmeländern die Abschiebung der bei ihnen gestrandeten und Schutz suchenden Menschen zu erleichtern. Im Gegenzug gibt’s Bares, und das nicht zu knapp. Deutschland erkauft sich das Entgegenkommen der afghanischen Regierung mit 1,7 Milliarden Euro, die bis 2020, als Mittel für Entwicklung und Wiederaufbau getarnt, in die klammen Kassen dieses maroden Staates fließen sollen.
De Maizière verlor in Folge keine Zeit, seine Innenministerkollegen eindringlich aufzufordern, „das Abkommen zügig mit Leben zu erfüllen“, was die Betroffenen ihr eigenes durchaus kosten kann. Abschiebungen oder Rückführungen unliebsamer Asylbewerber sind bei uns Ländersache. Und die einzelnen Bundesländer bedienen sich dieses Instrumentariums bislang mit unterschiedlicher Intensität und Aggressivität. Aber der Druck auf die Flüchtlinge ist in den letzten Monaten rapide gewachsen. Muss er auch, wenn der Bundesinnenminister sein Klassenziel erreichen will. 12.000 Asylbewerber aus Afghanistan stehen auf seiner Abschuss-, pardon Abschiebe- bzw. Rückführungsliste. Der „Tom“ geht da mit „Äinschie“, seiner Chefin, kondom: „Wir schaffen das!“ Rolf Schwanitz, unter Schröder-Gerd Staatsminister im Bundeskanzleramt, hätte das so ausgedrückt: “Es gibt keinen Grund für Zweifel, dass wir das nicht schaffen”. Aber der Mann hat ja heute nix mehr zu melden.
„Freiwillig“ zurück in die Gefahr
Das wären dann fünf Prozent der hier lebenden 247.000 afghanischen Staatsbürger, die den Abflug machen müssten und die sonst, wenn wir nix dagegen unternehmen, unser armes Deutschland in den sicheren Ruin treiben würden. Wobei „freiwillige Rückkehr“ natürlich viel besser klingt als Abschiebung. Und auch preiswerter ist. Wenn die Fremden davon überzeugt werden können, aus „freien Stücken“ in ihr paradiesisches Heimatland zurück zu kehren, kommt das den germanischen Steuerzahler weit weniger teuer, als würden die ungeliebten Migranten versuchen, ihr Asylrecht vor Gericht einzuklagen, wenn’s sein muss sogar unter Einschaltung aller möglichen Stellen und Instanzen. (Darüber freuen sich dann höchstens die nicht unbedingt schlecht daran verdienenden Anwälte).
Dagegen sind die paar Euro an Starthilfe und Reisekostenzuschüssen, die den Einsichtigen winken, Peanuts. Zumal es dafür vom Bund, den Ländern und der EU finanzierte Förderprogramme gibt. Davon abgesehen ist diese Art der Rück-Deportation auch weniger hässlich als eine erzwungene. Bilder von sich verzweifelt sträubenden und mit Handschellen geknebelten Menschen, die von muskelbepackten „Security“-Hünen die Gangway ins Flugzeug hoch gescheucht und geschubst werden, sind keine gute PR. Wäre es noch nicht einmal für anerkannte Schurkenstaaten. Für eine „wehrhafte“ Demokratie wie die unsere erst recht nicht. Allerdings ist das Adjektiv in diesem Kontext als Wortwahl ein mut- und böswilliger Missgriff.
Schlechte Stimmung im „Ferienflieger“
Apropos Flugzeug: Der erste „Ferienflieger“ ist bereits Mitte Dezember von Rhein-Main Richtung Kabul gestartet. Ein Charterflug. Doch die Stimmung an Bord soll nicht besonders ausgelassen gewesen sein. Irgendwie haben sich die 34 Zwangspassagiere so gar nicht auf daheim freuen wollen. Ende Januar wünschte die Stewardess dann knapp 30 weiteren nicht allzu glücklich dreinschauenden Afghanen einen guten Flug zurück in die Heimat. Noch im Oktober vergangenen Jahres hatte die Bundesregierung für solche Aktionen Transall-Maschinen der Luftwaffe einsetzen wollen, zumal es bei dieser besonderen Art des Reisens ja auch nicht unbedingt auf Bequemlichkeit und guten Bordservice ankommt. Was aber auf blanken Zynismus hinausgelaufen bzw. geflogen wäre. Denn: Die maroden C-160 der Uschi-Airforce werden nämlich auch „Engel der Lüfte“ genannt. Doch von den historischen Frachtfliegern sind ja die wenigsten Exemplare betriebsfähig. Deshalb wird es bei künftigen Travel & Fun-Adventures dieser Art ziviler zugehen, wenn auch, berücksichtigt man den Anlass, vielleicht nicht unbedingt zivilisierter. Der Sweet-Back-Home-Hindukusch-Airline stehen wirtschaftlich goldene Zeiten bevor. Das war ja erst der Anfang.
Die Zahl der zivilen Opfer erreicht Rekordniveau
Im Februar 2016 hat die UN-Unterstützungsmission für Afghanistan (UNAMA) ihren Jahresbericht vorgelegt. Ein Papier von erschreckender Brisanz. Demnach hat die Zahl der zivilen Opfer in Afghanistan Rekordniveau erreicht. 2015 gab es dort die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009. Insgesamt verzeichnet der Bericht für das vorvergangene Jahr 3.545 zivile Tote und 7.457 Verletzte. Insgesamt seien von Anfang 2009 bis Ende 2015 genau 58.736 zivile Geschädigte zu beklagen gewesen, darunter 21.323 Tote und 37.413 Verletzte. Jede Woche 300 Tote oder Verwundete, jeden Tag neun abgemurkste Zivilisten. In Vergleich zu den 80 Millionen Toten des von den Deutschen angezettelten 2. Weltkriegs ist das natürlich nichts.
Besonders Schutzbedürftige würden immer öfter zum Ziel von Attacken, streicht die UNAMA-Bilanz heraus. 2015 stieg die Zahl der weiblichen Opfer um 37 und die der Kinder um 14 Prozent. Ab und an gehen diejenigen, die das Pech hatten, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort zu sein, aber auch „killed by friendly fire“ über den Hilmend, eben weil die eigenen, lokalen „Sicherheitskräfte“ zu blöd sind, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, es vielleicht auch nicht wollen, oder sich der Operator der US-Drohne gerade einen Becher Kaffee am Automat gezogen hatte. Vielleicht führte er aber auch nur Tomaten auf den Augen spazieren und verwechselte deshalb eine Hochzeitsgesellschaft oder ein Krankenhaus wieder einmal mit einem grölenden und marodierenden Taliban-Mob. Kann halt passieren. Im Dienst der guten Sache müssen halt auch mal Kollateralschäden in Kauf genommen werden. Was sich durchaus auszahlen kann, wie der Karriereschub von Bundeswehroberst Georg Klein beweist. Nachdem der Bendorfer Offizier am 4. September 2009 bei Kundus bei einem Angriff auf zwei von Taliban entführte Tanklaster 91 Menschen, überwiegend unbeteiligte Zivilsten, in den Tod geschickt hatte, wurde er 2013 für seine Verdienste zum Brigadegeneral befördert.
Die guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen
Für die Abwicklung der Asylverfahren ist das dem Bundesinnenminister unterstehende Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zuständig. Das Kürzel erinnert ein klein wenig an das der „BILD am Sonntag“: BamS. Gemein ist beiden Institutionen, dass sie es mit der Wahrheit, den Tatsachen und der akribischen Prüfung der Fakten nicht immer so genau nehmen. Jedenfalls gibt die Bundesbehörde auf Anweisung von oben bei der Bearbeitung von Asylanträgen zunehmend Gas, wobei die Richtung vorgegeben ist. Da wird im Akkord über menschliche Schicksale befunden. Die guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Aschenputte lässt grüßen. Erinnert fatal an die Selektionspraxis in den Nazi-KZ’s. Aber natürlich läuft heuer alles streng nach rechtsstaatlichen Regeln über die Rampe. Weshalb wir uns die Hände ja auch nicht schmutzig machen. Die Vollstrecker und Henker sitzen zudem tausende Kilometer entfernt. Damit haben wir nix zu tun.
Die Gefahr steigt, aber die Schutzquote sinkt von 75 auf 52 Prozent
Lag die anerkannte Schutzquote für afghanische Antragssteller 2015 noch bei 78 Prozent, was das Sicherheitsgeschwafel des Chefs über die Lage vor Ort als Schwachfug entlarvt, betrug sie im ersten Halbjahr 2016 nur noch 52,9 Prozent. Das zeigt schon, in welche bedenkliche Richtung der Hase hoppelt. Plötzlich werden Fakten und Tatsachen der politischen Strategie und dem eigenen Wunschdenken untergeordnet. Die Flüchtlinge sollen weich geklopft und mürbe gemacht werden, und zwar mit dem Ziel, dass sie letztendlich (entnervt) aufgeben und möglichst „freiwillig“ dorthin zurück kehren, wo sie verdammt noch mal hingehören. Entmutigungsstrategien und gezielte Verunsicherungen sind wesentliche Bestandteile des Repertoires.
Dass sich diese entrechteten und verängstigten Auf- und Eindringlinge hier am Ende auch noch wohlfühlen, ist das Letzte, was bestimmte Entscheidungsträger wollen. Wieso sollte man solche ungeliebten Leute bis zur Status-Klärung obendrein auch noch in irgendwelchen teuren Integrations- und/oder Sprachlernprogrammen parken, wo doch so gut wie abgemacht ist, dass sie sowieso wieder dorthin verschwinden müssen, wo der Pfeffer bzw. der Mohn wächst. Aber ihre Situation hier bei uns wäre noch niederschmetternder, unwürdiger und trostloser, gäbe es nicht die vielen und überwiegend ehrenamtlich tätigen Flüchtlingshilfe-Organisationen, privaten und kirchlichen Initiativen, deren Aktivisten den hohlen Sonntagsreden der Politiker aktiv praktizierte Nächstenliebe entgegen setzen und die ihre moralischen und ethischen Werte noch nicht auf dem opportunistischen Altar der Tagespolitik und der (Krisen-)Diplomatie verbrannt haben. Diese Leute leisten Großartiges!
Die Menschenrechtsorganisation „Pro Asyl“ hat inzwischen eine Unterschriftenaktion gestartet, um den Bundesinnenminister dazu zu bewegen, die umstrittene Abschiebeaktion abzublasen, und zwar sofort. Unterstützer können sich hier einbringen: Eine elektronische Postkarte an Thomas de Maizière. Eine entsprechende, an den Petitionsausschuss des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge und das Bundesinnenministerium adressierte Online-Petition kann man/frau hier unterstützen.
Abschreckung an der Wurzel des Übels
Davon abgesehen: Am besten ist natürlich immer noch, wenn Flüchtlinge erst gar nicht bis zu uns vordringen. Dieser Überlegung lag auch eine großangelegte, von der deutschen Botschaft in den großen Städten Afghanistans initiierte Plakataktion zu Grunde. Auf sechs mal acht Meter großen Bannern wurden Ausreise- bzw. Fluchtwilligen in den Landessprachen Dari und Paschtu nahegelegt, sich das mit Deutschland sehr genau zu überlegen.
Zurück ins Michel-Territorium, der ethischen Zentrale des christlichen Abendlandes. Oft werden die Anträge von den überforderten BAMF-Mitarbeitern noch nicht einmal inhaltlich, sondern unter Zeitdruck nur formell geprüft. Die „Interviews“ sind nicht selten eine Farce und dilettantisch organisiert. Die langatmigen Begründungen für eine Ablehnung werden in weiten Teilen aus vorgefertigten Textbausteinen zusammengepuzzelt, die im Ergebnis mitunter allen Kriterien einer Realsatire Genüge tun würden. Man müsste drüber lachen, wäre es nicht so ernst und ginge es nicht um Leben und Tod. Und die Verwaltungsgerichte sind nicht selten stramm auf Linie, was für alle Instanzen gilt.
Akrobatische Risiko-Arithmetik
So legt das Bundesverwaltungsgericht beispielsweise eine auf abenteuerlichen Berechnungswegen zustande gekommene obskure „Gefahrendichte“ als Messlatte an. Dabei wird die Zahl der in einem bestimmten Gebiet lebenden Menschen in Relation zur Zahl der Akte willkürlicher Gewalt mit Todesfolge gesetzt, die dort innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens bedauerlicherweise erfolgt sind. Daraus wird ein zynisch auch mal als „Body-Count-Index“ bezeichneter „Gefährdungskoeffizient“ errechnet. In den Gerichtsentscheidungen heißt es dann oft, die „Gefahrendichte“ in der Zielregion der Abschiebung habe nicht die „Erheblichkeitsschwelle“ überschritten, weshalb eine Abschiebung möglich sei. Schutzbedürftigkeit wird nur dann anerkannt, wenn die Zahl der Tötungs- und Verletzungsakte nahe bei 50 Prozent der Gesamtzahl der Bevölkerung liegt. Eine Marke, die fast nie erreicht wird.
Die Absurdität dieser arithmetisch kühnen Akrobatik hat der ehemalige Richter Prof. Dr. Dr. Paul Tiedemann entlarvt. Anhand der heutigen Rechtsprechung errechnete Tiedemann den Quotienten der Gefahrendichte für zerstörte Städte im Zweiten Weltkrieg. Demnach hätte die Gefahrendichte in Stalingrad bei 19,2 % gelegen, in Dresden bei 10,6 % und in Coventry bei 0,6 %. Wären Menschen aus diesen Städten geflüchtet, hätte man sie nach heutiger deutscher Rechtsprechung also ohne weiteres wieder dorthin zurückschicken können. Krass, oder?
Das Leben ist kein Ponyhof, auch nicht am Hindukusch
Aber es interessiert die gut dotierten und abgesicherten Bürokraten und Entscheider hinter ihren sicheren Schreibtischen kaum, dass der Mann von Zohra von Taliban geköpft und gevierteilt wurde, und das nur, weil er als Müllmann unterwegs war und somit dem verhassten System gedient hatte. Für sie ist es auch unerheblich, dass der Frau wiederholt ein gleiches Schicksal angedroht wurde, nachdem sie eine von den bestialischen „Gotteskriegern“ goutierte Gruppenvergewaltigung lebensgefährlich verletzt überstanden hatte. Ja, ja, das Leben ist kein Ponyhof. Samira (21) haben diese Tiere in Menschengestalt vier Finger abgehackt, weil sie das Verbot, sich die Nägel zu lackieren, ignoriert hatte. Und wer bei einem Seitensprung erwischt wird, riskiert, mit Kieseln beworfen zu werden, die freilich in der Regel die Proportionen von Pflastersteinen aufweisen. Dies alles dann in einem Akt öffentlicher Belustigung mit meist tödlicher Konsequenz.
Das ist bei den Saudis ja auch so, aber nicht weiter schlimm. Denn die Scheichs sind ja quasi unsere Freunde. Sie, wie die Pakistanis, finanzieren zwar die Taliban, aber wir machen andererseits mit den Wüstensöhnen auch blendende Geschäfte. Die Afghanen hingegen kosten uns nur. Und deshalb scheint der ein oder andere Politiker an exponierter Stelle auch schon mal bereit, großzügig über Bombenterror, Massenvergewaltigungen, Folter, Massenmord oder Entführungen hinweg zu sehen oder deren Ausmaß zumindest klein zu reden.
Schlaumeier und Plätze des himmlischen Friedens
Zumal es in Afghanistan ja genug als „interne Fluchtalternative“ bezeichnete Plätze des himmlischen Friedens gibt, an denen sich eventuell ein kleines bisschen gefährdete Menschen in Sicherheit wähnen dürfen. Nur wo genau diese Sehnsuchtsorte sind, das können uns auch die Schlaumeier aus Alt-Moabit in Berlin nicht genau sagen. Aber es soll sie durchaus geben, paradiesische Fleckchen in Afghanistan und Schlaumeier im BMI. Und natürlich im BAMF.
Wischen wir mal die Tatsache beiseite, dass sich Rückkehrer per se auf heißem, lebensgefährlichem Pflaster bewegen, auch wenn die dramatisch verschärfte Bedrohungslage hier und dort halt „nicht so ausgeprägt“ sein sollte. Als Gestrandete und Entwurzelte haben die Re-Deportierten aufgrund fehlender staatlicher Unterstützung in fremder Umgebung und ohne familiäre oder freundschaftliche Netzwerke kaum eine Überlebenschance. Es sei denn, sie schlagen sich auf die andere Seite. Das ist das Holz, aus dem man die Terroristen von morgen schnitzt. Die UNAMA konstatiert einen Anstieg der Gewalt, mehr zerstörte Wohnungen sowie tausende neue „displaced persons“ (Binnenvertriebene) und befürchtet, dass sich die Auswirkungen der Gewaltwelle in einer allgemein lang anhaltenden Verunsicherung der Bevölkerung niederschlagen wird. Was wiederum zu erhöhten Fluchtbestrebungen führen dürfte. Aber davor wird uns Lothar schon bewahren, “verantwortungsvoll, behutsam aber gleichwohl konsequent”, wie er selbst sagt.
Guter Stoff und getrübter Blick
Wenn ein Innenminister wie der unsere allen Ernstes auf die „glaubhafte Zusicherung“ der Talibanführung vertraut, sie hätte ihre Kämpfer ja angewiesen, zivile Opfer zu vermeiden, die zivile Infrastruktur zu schützen und sich stattdessen bei ihren Attacken auf westliche Staatsbürger, Soldaten und örtliche Behörden zu konzentrieren, lässt das nur einen Schluss zu: Der Mann muss sich bei seinem Besuch in Kabul reichlich mit „schwarzem Afghanen“ eingedeckt haben – und zehrt als heimlicher Kiffer immer noch genüsslich von dem geilen Stoff. Seit wann gibt unsere Regierung eigentlich etwas auf das Wort von terroristischen Religionsfanatikern, die im Meuchel- und Ritualmord eine sakrale Handlung sehen? Zumal diese verlausten Zombies bis heute genau das Gegenteil von dem praktizieren, was unser Superminister so blauäugig bereit ist zu glauben. Aus einem Bericht der Vereinten Nationen geht hervor, dass diese räudige Terror-Schar mehr als doppelt so häufig gezielte Anschläge gegen die afghanische Zivilbevölkerung verübt als gegen die afghanischen oder internationalen Truppen.
Morgens einen Joint und der Taliban ist Dein Freund
Aber der Minister muss schon früher damit angefangen haben, sich gelegentlich einen starken Joint rein zu ziehen. Bereits 2014, als der Bundeswehreinsatz am Hindukusch immer mehr reduziert wurde, wollten de Maizière und seine Beamtenschaft ehemalige Dolmetscher der Bundeswehr, die Racheakte der Taliban befürchteten, nur unter der Bedingung nach Deutschland lassen, dass sie die Bedrohung schriftlich beweisen konnten, möglichst noch von einem Taliban-Kommandant beglaubigt. Am Ende setzte sich die Bundeswehr mit der Fürsorge für die ehemaligen Helfer gegen die Bürokraten aus dem Innenressort durch. Fast 700 von ihnen bekamen bisher einen Aufenthaltsstatus.
Inzwischen (Stand 6. Februar 2017) stellen sich aber immer mehr Bundesländer quer und vermasseln dem sich so rigoros gebenden Innenminister die Abschiebetour. Nach Schleswig-Holstein und Berlin spielen auch Bremen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz nicht mehr mit und weigern sich, abgelehnte Asylbewerber in einen Airbus zu setzen und ins Verderben zu schicken. Auf de Maizières Einschätzung der Lage vor Ort gibt man hier offenbar nicht viel.
Gemäß unseres Grundgesetzes (Art. 16), auf das und den wir ja so ungemein stolz sind, genießen politisch Verfolgte bei uns Asylrecht. Das gilt mit Verweis und in ausdrücklichem Bezug auf die Genfer Flüchtlingskonvention ebenso für „subsidiär Schutzberechtigte“, denen ein „ernsthafter Schaden droht, wenn sie in ihr Herkunftsland abgeschoben würden und Opfer willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes werden könnten“. Ja mei, wenn das, von den Syrern mal abgesehen, nicht auch auf die (meisten) der bei uns mehr schlecht als recht lebenden und einer ungewissen Zukunft entgegensehenden afghanischen Mitbürger zutrifft, auf wen dann? Selbst systemkritischen Geistern unseres von einem autokratischen Döner-Putin beherrschten Nato-Partners Erdokanien bietet das Auswärtige Amt pro-aktiv (und zu Recht) Aufnahme an.
Aber an der strategisch und wirtschaftlich ach so bedeutsamen und touristisch geliebten Schnittstelle zwischen Okzident und Orient muss ja auch nicht unsere Sicherheit verteidigt werden. Oder vielleicht langsam doch? Andererseits ist der Despot vom Bosporus wieder so nett und hält uns die Flüchtlingslawine aus Syrien vom Leib. Flüchtlinge, die über den Landweg in die Türkei einreisen, um dann übers Mittelmeer in Schlauchbooten und Nussschalen nach Griechenland zu schippern, werden, so sie diese lustige Seefahrt überleben, großzügig zurückgenommen. Den Deal wollen sich die Türken von der EU mit drei Milliarden Euronen vergolden lassen.
Wir helfen Döner-Putin beim Kurdenschlachten
Davon mal ganz abgesehen: Die auf der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik stationierten 240 Bundeswehrsoldaten sind ja nicht nur dazu da, von dort aus den von einer internationalen Koalition geführten Kampf gegen den „Islamischen Staat“ zu unterstützen, sondern sie dienen indirekt ja auch der Absicherung von Recep Tayyips Despoten-Regime. Das war bei der Nato-Mission „Active Fence Turkey“ auch schon so. 260 mit „Patriot“-Flugabwehr-Raketensystemen ausgerüstete deutsche Luftwaff‘ler sicherten von 2012 bis 2015 in Anatolien die Grenze zum Bürgerkriegs-Schlachtfeld Syrien gegen Raketenangriffe von dort, die aber mangels Masse nie erfolgt sind. 30 Millionen EUR hat den germanischen Steuerzahler dieser heldenhafte Einsatz gekostet, der der türkischen Luftwaffe andererseits ausreichend Luft verschaffte, zeitgleich Kämpfer der kurdischen PKK zu bombardieren, die wiederum in Syrien und im Irak mit Bodentruppen gegen den IS zu Felde zogen und dabei unter anderen von Deutschland unterstützt werden. Gegen einen Islamischen Staat übrigens, dessen Mörderbanden die Türkei jahrelang toleriert, wenn nicht gar unterstützt hat und die den ehemaligen Mentor jetzt mit einer Welle blutigen Grauens überziehen.
Das Grundrecht auf Asyl hat nur noch Alibi-Charakter
Das verbriefte (Grund-)Recht auf Asyl ist in den zurück liegenden Jahren immer mal wieder ausgehöhlt und auf ein in den Augen der Mehrheit der Bundesbürger gerade noch erträgliches und akzeptiertes Maß zurückgestutzt worden. Es hat, auch wenn es mehr und mehr Alibi-Charakter erhält, in seiner ursprünglichen Fassung aber noch (eingeschränkte) Gültigkeit – oder sollte es zumindest. Wem das nicht in den völkisch-ideologischen Kram passt, sollte das auch deutlich sagen. Gell, Thomas!
Die Lufthoheit über den Stammtischen
Unsere Transalls sind, siehe oben, zwar kaum in der Lage, in den Luftraum Talibaniens vorzustoßen, dafür ist der Innenminister aber mit seiner restriktiven, in der Regierungskoalition freilich nicht ganz unumstrittenen Asylpolitik auf einem guten Wege, die Lufthoheit über den Stammtischen und den Pegida-Aufmärschen zurück zu erobern. Politisches Kalkül und parteipolitisches Überleben wiegen schwerer als das Lebensrecht von geschundenen, verfolgten, gefolterten, drangsalierten, unterdrückten und ihrer menschlichen Würde beraubten Drittwelt‘ler. Ehrlicher wäre es zu sagen, dass uns deren Schicksal scheißegal ist, solange wir es uns in unserer mitteleuropäischen Wohlstandsfestung gemütlich machen können. Fragt sich nur, wie lange noch.