Von Jürgen Heimann
Vergessen wir mal den Fluch der Karibik. Die Bewohner der gottverlassenen Schatzinsel haben es eh besser drauf. Und ihr Held heißt in Wahrheit auch nicht Johnny Depp sondern Friedrich Rau. Das ist jener junge Mann aus Jena, der irgendwann vor ein paar Jahren wie aus dem Nichts auf den Musicalbühnen dieser Republik aufgetaucht war und seitdem einen Erfolg nach dem anderen einsammelt. Und der trotz aller Höhenflüge nie die Bodenhaftung verloren hat. Dabei wollte er nie zum Musiktheater, sondern sich schlicht und ergreifend nur als Sänger durchschlagen. Gut, dass es anders kam.
In der Domstadt Fulda ist Rau seit zwei Jahren der Publikumsliebling Nr. 1. Spätestens seitdem er sich hier 2016 zum Medicus hatte ausbilden lassen. Den Grundstein für seine Karriere in Osthessen hatte der Künstler bereits im Jahr zuvor gelegt, und zwar als Robert Louis Stevenson. Ob er genauso gut schreiben und sich Geschichten ausdenken kann wie einst der berühmte schottische Schriftsteller, wissen wir nicht. Aber besser singen, tanzen und spielen als der geistige Vater von Long John Silver kann er allemal.
Ein fulminantes Piraten-Epos
Das hat der Tausendsassa im inzwischen abgehakten Fuldaer Musicalsommer 2018 erneut eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Als Rob Cole in der englisch-persischen Emergency-Room-Adaption und eben als Held der Schatzinsel, die viele nach wie vor, warum auch immer, für ein Kinderstück halten, was sie aber definitiv nicht ist. Trotz dieser weit verbreiteten Fehleinschätzung ist die Inszenierung der hiesigen Spotlight-Musicals-GmbH ein ständig ausverkaufter Selbstläufer. Aber an proppenvolle Säle im Schlosstheater ist man hier ja sowieso gewöhnt.
Ein fulminantes Piraten-Epos, bei dem Regisseur Stanislav Slovak und Choreograf Michal Matej ganz tief in die Trickkiste gegriffen und gegenüber den Vorgängerversionen sogar noch eins draufgesetzt haben. Das gilt für Bühnenbild und Kostüme ebenso wie für das Licht- und das Sounddesign. Nach der Päpstin und dem Medicus haben Produzent Peter Scholz und Komponist Dennis Martin, die beiden kreativen Köpfe hinter Spotlight, mit dem spannenden farbenprächtigen Maritim-Spektakel einen bis dahin sowieso schon perfekten Musical-Sommer krönen können. Alle guten Dinge sind ja bekanntlich drei.
Zwei Handlungsebenen geschickt miteinander verwoben
Das Außergewöhnliche an diesem Bühnen-Hit ist die Erzähltechnik. Die Story funktioniert auf zwei verschiedenen Handlungsebenen, die mitunter fließend ineinander übergehen. Gegenstand ist einmal die Lebensphase, in der der Autor seine berühmte Schatzinsel aus den Wellen der Karibik hat auftauchen lassen und die Suche nach den Klunkern zu Papier gebracht hatte. Parallel dazu erwachen Käpt’n Flint, Long John Silver und Jim Hawkins, der in der Romanvorlage (Originaltitel: Treasure Isand) als Ich-Erzähler auftritt, und alle anderen aus dem Buch zum Leben. Und ziehen ihr Ding durch.
Die Übergänge zwischen den beiden Strängen haben die Macher hervorragend angelegt. Die Wechsel gelingen reibungslos und geschmeidig. Sie stören den Erzählfluss nicht, sondern beflügeln ihn. Da mutiert der gestrenge alte Herr des kleinen Louis in Sekundenbruchteilen zu Käpt’n Smollet, während sich der aufgeweckte kleine Loyd in seine fiktive Entsprechung Jim Hawkins verwandelt. Der lange vom Erfolg gemiedene Schriftsteller (Friedrich Rau) taucht nach dem Sprung in der Zeit zurück t als Dr. Livesey wieder auf und gibt daselbst nebenbei auch noch den Gollum-haften Ben Gunn.
Das macht ganz einfach Spaß!
Das ist Entertainment par Excellence, Unterhaltung vom Feinsten, die einfach Spaß macht und mitreißt. Präsentiert von einem der spielfreudigsten Ensembles der Saison. Und das, obwohl viele der Beteiligten zu diesem Zeitpunkt im selben Haus schon zwei Produktionen hinter sich hatten, nämlich die Päpstin und den Medicus. Und wenn das dem ein oder anderen auf die Knochen gegangen sein sollte, die Zuschauer merkten nichts davon. Aber sie merkten, dass das Ganze den Akteuren offensichtlich riesige Freude bereitete. Ihnen selbst ja auch. Da wurde auf der Stage der berühmte Funke gezündet, der übersprang.
Das Stück lebt nicht nur von der starken Geschichte und ihrer einfallsreichen, kreativen Bühnenadaption, sondern vor allem von den Personalien. Neben dem erwähnten Friedrich Rau, der ob seiner warmen Stimme und seines ausdrucksstarken, intensiven Spiels von der ersten Sekunde an „everybody‘s Darling war“, macht Anna Thorén als Amerikanerin Fanny Osbourne, in die sich der Autor verliebt, eine Top-Figur. Deren Sohn Lloyd inspiriert den Schreiberling zu seiner Erfolgsgeschichte.
Der Junge, der ein Mädchen war
Andreas Lichtenberger ist ein Pirat wie aus dem Bilderbuch. Egal, ob er nun den fiesen Flint, oder den einbeinigen Silver gibt. Hat er sich als letzterer erst einmal eingehumpelt, gibt es kein Halten mehr. Einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen die Darsteller des kleinen Lloyd , in dessen Rolle im Wechsel Kinder im Alter zwischen 10 und 12 Jahren schlüpfen. Und dass hinter der Maske, wie im Fall der zwölfjährigen Anna Maria Eichler geschehen, zur Überraschung des Publikums ein Mädchen zum Vorschein kommt, ist umso bemerkenswerter.
Der größte Gewinn für die Inszenierung kam aber in Gestalt von Reinhard Brussmann daher. Der österreichische Haudegen hatte sich seinen Part – streng genommen waren es derer ja zwei, weil er auch noch in die gestrenge Vaterrolle des jungen Stevenson schlüpfte – in gerade mal sieben Tagen reingepfiffen, legte dann aber einen Käpt’n Smollet hin, als hätte er sein ganzes Bühnenleben hindurch nichts anderes getan. Zuvor hatte Brussmann in den beiden anderen Stücken des Musicalsommers große Fußspuren hinterlassen. Einmal wieder als weiser Heilprofessor Ibn Sina in „Der Medicus“, und dann erstmals als „Aeskulapius“ in „Die Päpstin“. Die Figur dieses griechischen Gelehrten war in den bisherigen Aufführungsstaffeln eher untergegangen, durch Brussmann legte sie massiv an Gewicht und Bedeutung zu.
Volle Punktzahl für Reinhard Brussmann
Und jetzt also als Schiffskommandant. Man darf getrost unterstellen, dass der Künstler von Sextanten, Chronometern, Astro- und Koppelnavigation genau so viel versteht wie ein Bewohner der Sahelzone vom technischen Innenleben eines Kühlschrankes. Aber er mimte den Boss an Bord so überzeugend, als sei er auf den Planken einer zwischen Jamaika und den Kaimanninseln kreuzenden Schaluppe zur Welt gekommen. Das „Ich bin das Kommando“ zählt in Brussmanns Interpretation zu den Highlights der an Ohrwürmern nicht gerade armen Partitur. Für letztere zeichnete wieder „Hauskomponist“ Dennis Martin verantwortlich. Ein Mann, von dem man sich immer wieder fragt, aus welchen (offenbar nie versiegenden) Quellen er seine Melodien schöpft. Er hat dem Stück tolle, und abwechslungsreiche Songs spendiert, eingängig, treibend und emotional dicht. Die Lieder wirken lange nach. Hei-Hoo, Hei-Hoo! Darauf eine Buddel mit Rum! Zum Wohl!