Rotorman's Blog

Kleine Spießer: Multifunktionelle
Tools so alt wie die Menschheit

Mickey

Eigentlich sollte man sie ja nur hinter vorgehaltener Hand benutzten. Aber manche finden es auch cool, darauf herum zu kauen. Wie Mickey Rourke in „Iron Man 2“. Anderen dienen die Spießer als Zigarettenersatz.

Von Jürgen Heimann

Vergessen wir mal die Geschichte von den beiden durch den Wald spazierenden Zahnstochern, die sich angesichts eines vorbeihastenden Igels wundern, dass hier tatsächlich Busse verkehren. Die Frage stellt sich, wozu sich die kleinen unscheinbaren Rundhölzchen sonst noch so alles verwenden lassen? Abgesehen davon, dass man mit ihnen, auf der Suche nach verbliebenen Essensresten, zwischen den Beißerchen herum pulen kann. Wofür sie ja einst eigentlich auch aufwändig konstruiert worden sind. 

Eine Option wäre, damit den übel aus Mund und anderem riechenden Sitznachbarn im Bus zu pieken. Oder man tackert sich ein solches Utensil als kostengünstigen Piercing-Ersatz an die Backe bzw. treibt es horizontal durch die Nasenscheidewand, möglichst die eigene. Das rostet dann auch bei Regen nicht. Verfault auf Dauer allenfalls. Machen viele Eingeborenenstämme wie die australischen Aborigines oder solche in Papua- Neuguinea bzw. im Amazonasbecken ja auch so. Zahnstocher sind in diesen Kreisen als Septum-Piercing allerdings weniger verbreitet. Die Jungs dort nehmen dafür Knochen, die mitunter auch schon mal aus dem Schienbein eines getöteten Feindes stammen dürfen. Diese Materialwahl würde bei uns zu gewissen logistischen Problemen führen.

Cordon Bleu und Ohrenschmalz

Zahnstocher

Zahnstocher sind vielseitig verwendbare Multifunktions-Tools. Man kann sich mit ihnen nicht nur die Essensreste zwischen den Beißerchen heraus pulen, sondern damit auch die Fingernägel reinigen, ausgefranste Dübellöcher auffüttern oder das Corden Bleau vernageln.

Die von den links fahrenden Brexitaniern “toothpicks” genannten High-Tech-Tools machen sich als schmückender Zierrat aber auch an den Augenbrauen oder den Ohrläppchen ganz gut. Und es sind Multifunktionswerkzeuge. Mit deren Hilfe lästiges Ohrenschmalz zu entfernen, sollten sich ob der angespitzten Enden allerdings nur ausgewiesene Feinmotoriker zutrauen. Aber beim Reinigen der Fingernägel oder zum Unter- und Auffüttern eines ausgefransten Dübel-Loches leisten die Dinger allemal gute Dienste. Auch in der Küche. Beispielsweise, um Cordon Bleu zu vernageln oder Käsewürfel, Canapés und andere leckere kleine Cocktailhappen aufzuspießen. Künstler nutzen den filigran designten Werkstoff als Baumaterial, um mit viel Geduld und Geschick daraus ganze Miniaturwelten entstehen zu lassen. So wie der US-Amerikaner Scott Weaver, der über 3.000 Stunden darauf verwandt hat, aus Hunderttausenden von Zahnstochern Elemente seiner Heimatstadt nachzubauen. Natürlich auch die Golden Gate Bridge. An Geduld fehlt es dem Burschen scheinbar nicht.

Nur hinter vorgehaltener Hand

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Viel Geduld: Der US-Amerikaner Scott Weaver hat über 3.000 Stunden darauf verwandt hat, aus Hunderttausenden von Zahnstochern Elemente seiner Heimatstadt San Franzisco nachzubauen.

Was man aber keinesfalls tun sollte: die Mikro-Stöckchen im klassischen Sinne ihrer eigentlichen Zweckbestimmung benutzen. Zumindest in der Öffentlichkeit nicht. Noch nicht einmal hinter vorgehaltener Hand. Das gilt als unhöflich und unappetitlich. Behaupten moderne Etikette-Trainer und Anstandshüter. Obwohl der olle Knigge, der Erfinder der gleichnamigen Bocker, deren Gebrauch in der Erstausgabe seiner Benimm-Bibel im 18. Jahrhundert noch ausdrücklich geboten hatte. Er wusste sich da in guter Gesellschaft mit Erasmus von Rotterdam (1469-1536), der schon ein paar hundert Jahre zuvor in der Benutzung der Stocher einen Ausdruck feiner Manieren erkannt hatte. Der Gelehrte galt sowieso als ausgewiesener Experte guten Benehmens. Von ihm stammt schließlich auch die an seine Studenten gerichtete Empfehlung, einen Professor höflicherweise „beim Scheißen auf der Straße nicht zu grüßen“. Damals durfte noch ungeniert auf die Gasse gekackt werden. Wie sich die Zeiten ändern.

Igel

Der Zahnstocher-Bus verkehrt fahrplangemäß.

Heute sind, von Hundehäufchen mal abgesehen, die übelriechenden Tretminen weitestgehend aus dem öffentlichen Raum verbannt. Das gilt auch für die Dental-Sticks. Ihre Benutzung daselbst gilt aber genauso anstößig wie lustvolles Nasebohren an der Theke oder ungeniertes Kratzen am Skrotum auf der Rolltreppe im KaDeWe. Man muss sich ihrer heimlich bedienen und soll sie in Abgeschiedenheit benutzen. Trotzdem stehen bzw. liegen die Luststäbchen für Kleinwüchsige immer noch in kleinen Gläsern gebündelt oder in Papier verpackt auf den Tischen zahlreicher Restaurants herum. Vermutlich zur Dekoration. Aschenbecher gibt es ja hier längst nicht mehr.

Die antiken Griechen als Volk der Zahnstocher-Kauer

Steinzeitler

Schon in der Steinzeit waren Zahnstocher gebräuchlich. Allerdings waren sie vom Design her etwa grobschlächtiger ausgelegt. Zur Not tat es auch der abgebrochene Ast einer verharzten Krüppelkiefer.

Die kleinen Spießer sind so alt wie die Menschheit und waren bereits bei frühen Verwandten des heutigen Homo sapiens in Gebrauch. Schon der Homo habilis soll, darauf deuten Spuren an versteinerten Zähnen hin, vor 1,84 Millionen Jahren mit selbigen hantiert und sich damit die in seinen paradontösen Backenzähnen verfangenen, von einer längsgestreiften Säbelzahnantilope stammenden Schnitzelreste aus dem Gierschlund gefischt haben. Der Neandertaler kannte diese Mini-Torpedos ebenfalls. Die waren zu seiner Zeit aber eher grob gestrickt und nicht so filigran wie heute. Zur Not tat es da auch der angebrochene Ast einer verharzten Krüppelkiefer. Im Laufe der Zeit fanden dann unterschiedliche Materialien für die Herstellung Verwendung: Tierknochen, Holzspäne, Edelmetalle, Elfenbein und neuerdings auch Kunststoff. Die antiken Griechen nutzten die Teile so exzessiv, dass sie von anderen Völkern als “Zahnstocher-Kauer” verspottet wurden.

Zum Verzehr nur bedingt geeignet

Zum Verzehr sind sie freilich nur bedingt geeignet, wie der bekannte amerikanische Erzähler Sherwood Anderson 1941 hatte erfahren müssen. Auf deiner Schiffsreise nach Südamerika verschluckte der Schreiberling ein solches Zubrot und starb daran. Das Corpus Delicti wurde erst bei der Obduktion entdeckt. Und eine Österreicherin lebte zehn Jahre lang mit einem solchen Teil im Fuß auf großem. Sie war als Teenager in einen “Stuzzicadenti” getappt, hatte aber nicht realisiert, dass der größte Teil des Splitters im Huf steckengeblieben war. Diese Schluchtis merken sowieso nix mehr.

Goldene Stäbchen im Königsgrab

Lokal

Viele Restaurants halten noch in Zellophan oder Plastik eingeschweißte „toothpicks“ für ihre Gäste vor. Doch benutzen sollte man sie nach fast einhelliger Empfehlung führender Benimm- und Anstandstrainer in der Öffentlichkeit nicht. Foto: Pixabay

Das älteste vollständig erhaltene Exemplar wurde bei Ausgrabungen eines alten Königsgrabes in der mesopotamischen Stadt Ur im heutigen Irak gefunden und wird auf die Zeit von 3.500 v. Chr. datiert. Um Irrtümern vorzubeugen: Dabei handelte es sich nicht um einen Österreicher. Es war Teil eines an einem Ring befestigten Kosmetik-Sets und bestand aus purem Gold. Überhaupt galten diese Zahnfleischkratzer nicht nur als Gebrauchs-, sondern auch als Luxusgegenstände, die teils sogar mit Diamanten verziert wurden und somit von Wohlstand ihrer Besitzer zeugten. Der mittelalterliche “Sachsenspiegel” führte sie noch ausdrücklich als Teil der Erbgegenstände der Frau auf.

Aber auch die Beatles legten sich, als sie Anfang der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit ihrer Musik Geld scheffelten, einige Exemplare in Gold zu – und prahlten damit. Diese Glanzzeiten sind definitiv rum. Für die Fab Four, von denen ja auch nur noch zwei übrig sind, ebenso wie für die veredelten Zahnschwerter. Wenngleich ein Scheich in Berlin, weil er kein Bargeld eingesteckt hatte, unlängst seinen Taxifahrer damit entlohnte.

Die Portugiesen haben den Längsten

Portugal

Bis in die 70-er Jahre hinein wurden in Portugal “Palitos de Coimbra” genannte XXL-Zahnstocher gefertigt. Per Hand und aus dem Holz von Orangenbäumen. Sie maßen bis zu 25 Zentimeter. Damit hätte man sich locker auch den Teer vom linken Lungenflügel abkratzen können. Foto: Pixabay

Die heute gängigen “Tandenstoker”, wie die Holländer sagen, sind zwischen sechs und sieben Zentimeter lang, werden industriell produziert und in der Metallversion sogar in den beliebten Schweizer Universal-Taschenmessern verbaut. Die Portugiesen hingegen fertigten ihre “Palitos de Coimbra” noch bis in die 70er Jahre hinein in Handarbeit aus dem Holz von Orangenbäumen. Sie maßen (wer hat den Längsten?) bis zu 25 Zentimeter. Also diese Palitos. Damit hätte man sich locker auch den Teer vom linken Lungenflügel abkratzen können.

Als Glimmstängel-Ersatz mit Whisky-Geschmack

Apropos: Zahnstocher werden auch gerne als Glimmstängel-Ersatz zur Raucherentwöhnung eingesetzt. Die gibt’s dann in Teebaumöl getränkt oder wahlweise mit Pfefferminz-, Whisky-, oder Zimtgeschmack. Und einige Herren finden es sowieso ziemlich cool, ständig darauf herum zu kauen. So ein Holzpflöckchen im Mundwinkel, von links nach rechts (oder umgekehrt) hin und her bewegt, macht schon was her und suggeriert souveräne Lässigkeit und Abgebrühtheit. Kennen wir von Clint Eastwood  (“Erbarmungslos”), John Statham (“The

Verwendung

Käsewürfel, Canapés und andere leckere kleine Cocktailhappen lassen sich mit Hilfe von Zahnstochern prima fixieren. Foto: Pixabay

Als “Gaunerzinken” lassen sich die von den Polen “Wykalaczkas” genannten Hölzchen ebenfalls gewinnbringend einsetzen. In die Haustürspalte geklemmt, verraten sie dem potentiellen Einbrecher, ob die Luft rein ist. Das ist dann der Fall, wenn die Markierungen am nächsten Tag noch im Schlitz stecken. Die chinesische Einsatzvariante hingegen ist noch weit gefährlicher. Auf vielen Schulhöfen im Riesenreich der Mitte sind handgroße ” toothpick crossbow” genannte Spielzeug-Armbrüste, die Zahnstocher bis auf eine Distanz von 20 Metern verschießen können, der Renner. Die Geschosse haben genug Power, um sogar Glühbirnen zu zerstören. Kann man auch in Deutschland beziehen. Sind spottbillig und ideal für den Krieg im Büro, versprechen die Vertreiber. Da muss man seinen Kollegen aber schon in tiefster Abneigung verbunden sein. Dann doch lieber eine Roulade damit bändigen.

Armbrust

Gefährliche Variante aus dem Reich der Mitte: eine Mini-Armbrust, die Zahnspieße verschießt. Die Reichweite beträgt bis zu 20 Meter.

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