So, es ist so weit. Jetzt hat es mich auch eingeholt – das Alter. Ich spiele jetzt in der geriatrischen Oberliga. Gut, „Best Ager“ klingt besser als „alter Knacker“, kommt aber auf‘s Selbe raus. Machen wir uns nix vor: Es geht bergab. Die Würmer und Maden sind zwar noch nicht ganz so weit, dass sie sich, so mein Weg zufällig am Friedhof vorbeiführt, die Servietten umbinden. Aber sie lecken sich schon mal in erwartungsvoller Vorfreude die Lippen. Woher ich das weiß? Facebook! Vermutlich wollen die mich dort rausekeln und abschieben, weil ich den Altersdurchschnitt dieses großen, weltumspannenden Spiel- und Laberladens zu sehr in die Höhe treibe. Das erklärt auch die permanent und aufdringlich aufpoppenden Hinweise auf dieses „Seniorbook“, die ich bisher immer geflissentlich ignoriert habe. Doch es hat nix genutzt. Die sind hartnäckig. Meine Zielgruppen-Relevanz ist zu offensichtlich. Die grauen Panther winken mit dem Zaunpfahl. Sie blecken ihre dritten Zähne, warten sehnsüchtig auf mich und lassen sich nicht abwimmeln. Also habe ich mich da mal angemeldet. Unter dem Pseudonym „Richard Gere“.
Dieses „Seniorenbuch“, das mit schöner, penetranter Unregelmäßigkeit dazu aufruft, in ihm zu blättern, scheint exakt der Hafen zu sein, in dem ein in Ehren ergrauter Einhandsegler nach dem stürmischen Seegang eines langen, abgefüllten Lebens relaxt ausdümpeln kann. Mast und Schotbruch! Aber der Name!!! Wie das schon klingt!? Hat so was von VdK mit einem Schuss AOK gesponserter Apotheken-Umschau. Das ist die Bravo der Generation 60 Plus. Die sind da bei Seniorbook zwar recht freundlich, aber auch ziemlich direkt: „Willkommen im letzten Drittel“. Uff! Das war deutlich und ist natürlich Lebensabschnitts-bezogen zu verstehen. Ich bin auf der Zielgeraden. Und den immer mühseliger und beschwerlicher werdenden finalen Sprint in Richtung Deadline will man/frau mir hier so angenehm und unterhaltsam wie möglich gestalten. Ich darf mich in diesem sozialen Netzwerk für netzaffine Grufties wie zu Hause fühlen, mich unter Freunden, Gleichgesinnten und Leidensgenossen wähnen. Leidensgenossen deshalb, weil die Beschwerden, Auas und Wehwechen der User sich ähneln wie ein Rollator dem anderen.
Die Silver-Surfer sind online
Ihrem Selbstverständnis nach will die im September 2012 an den Start gegangene Community ein modernes Altersbild befördern und aktive Menschen mit Erfahrung ansprechen. Da ist in anglizistischer Verbrämung von sogenannten „Silver-Surfern“ die Rede. Muss irgendetwas mit der Farbe ihrer Haare, soweit noch vorhanden, zu tun haben. Im Visier zuvorderst solche Leute, „die noch nicht mit dem Computer als Bestandteil eines Haushaltes“ aufgewachsen und groß geworden sind. Da sind die bei mir genau richtig! Meine Altersgenossen sind gerade dabei, die virtuelle Welt mit ihren unbegrenzten kommunikativen Möglichkeiten für uns zu erobern und durcheinander zu bringen. Und ich jetzt mitten drin. Im Alter nutzt schließlich auch Torheit nix.
Sollte es zu denken geben, dass der Initiator und Investor dieses Kukident-Netzwerkes ein Bauunternehmer aus Deggendorf ist, der seine Kohle mit der Errichtung von Altenpflegeheimen macht? Der Mann hat immerhin drei Millionen Euronen in die Software von Seniorbook gesteckt. Dafür kann man schon was erwarten. Und das eröffnet auch Perspektiven. Das Geschäftsmodell ist genial. Sollte es Arthritis-bedingt irgendwann mal mit dem Chatten hier vorbei sein, weil es partout nicht mehr gelingen will, auf der Tatstatur die gewünschten Buchstaben in der passenden Reihenfolge zu treffen (auch weil der Kollege Parkinson vielleicht noch subversiv dazwischen pfuscht), weiß ich, an wen ich mich zu wenden habe. Ich habe mich deshalb in der Residenz „Haus Abendsonne“, einer der Top-Adressen für betreutes Greisen-Wohnen, schon mal auf die Warteliste setzen lassen. Aus dem Web 2.0 direkt in die Arme von Oberschwester Olga. Das ist die russischstämmige Pflegdienstleiterin, vor der sie alle Bammel haben. Haare auf Zähnen und Oberlippe. Mit Nachnamen heißt sie Kalaschnikova. War früher mal Brigadeführerin in einer Kolchose in der Nähe von Ulanowsk. Dort haben sie genmanipulierten Brechreiz angebaut und geerntet. Ihre Nichte, Tanja Kommruffufssoffa, ist ihrer Tante inzwischen gefolgt und leitet im Pflegeheim den Werksschutz.
Aufholjagd der grauen Panther
Die Seniorbook-Gemeinschaft wächst rasant. Ende September 2013 hatte sie 55.000 registrierte Mitlieder – mit und ohne Glied. Täglich kommen zwischen 300 und 400 Neuanmeldungen hinzu. Ende März diesen Jahres müssten es dann schon im günstigsten Falle 218.800 gewesen sein. Insofern ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Laden dahingehend mit Facebook gleichzieht. Die Zuckerberg-Klitsche hat ja gerade mal 1,39 Milliarden Nutzer weltweit. Also nur noch gerundet 13.787 bzw. 10.340 Jahre, bis die Web-Oldies, so sie ihre momentane Schlagzahl beibehalten, diese Marke geknackt haben. Anno 12355, spätestens 15802 n. Chr. müsste das Ziel erreicht sein. Bis dahin dürften auch die ausrangierten Brennelemente aus Brunsbüttel und Biblis A nicht mehr so arg strahlen. In dieser visionären Berechnung sind allerdings der natürliche, biologisch bedingte Schwund und die darauf basierenden Abgänge und Verluste, die Seniorbook bis dahin an Krematorien, Friedwälder und andere bestattungskulturelle Meetingpoints und Pendlerparkplätze verloren hat, noch nicht berücksichtigt.
Da steckt noch viel Potential drin
Woher die Neuzugänge alle kommen sollen, darüber mögen sich andere den Kopf zerbrechen. Doch die prognostizierte demographische Entwicklung stimmt da ja eher optimistisch. Der Anteil der älteren Menschen ab 60 allein im Land des Deutschen Michellin-Michels wird schon im Jahre 2020 39,2 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Wobei sich die ab 80-jährigen den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes zufolge bis 2060 von 4,3 auf 10,3 Millionen vermehrt haben dürften. Ungeachtet der Tatsache, dass die Bevölkerungszahl als solche bei uns in den nächsten 40 Jahren um zehn Millionen Köpfe sinken wird, steckt da doch gewaltiges Potential drin. Man muss halt in großen Zeiträumen denken. Und deshalb gehört Sozialen Medien wie Seniorbook die Zukunft. Und die wird rostig, ähm, nee, rosig.
Bei Fred Feuerstein die Höhle gefegt
Zurück ins Hier und Jetzt. Es bedarf bei mir allerdings noch einer gewissen Eingewöhnungsphase. Also bezogen auf Seniorbook, nicht auf das Pflegeheim. (So weit sind wir noch nicht). Das fesche und leicht verwelkte Titelgirl, das Neulingen auf der Begrüßungsseite des Portals vielversprechend-verheißungsvoll ein strahlendes Prothesen-Lächeln schenkt, muss eine bewegte Vergangenheit haben. Mimmi, so ihr Name, hat früher vermutlich mal auf 400-Muschel-Basis als Haushaltshilfe bei Fred Feuerstein im Neandertal die Höhle gefegt. Ihr verstorbener Männe kämpfte derweil Seite an Seite mit Barnie Gerölleimer in derselben Steinschleuderkompanie gegen renitente Dinosaurier. Männes Soldbuch zeigt Mimmi jedem, der es sehen will, oder nicht. Als der, ein passionierter Eisenbahner, noch unter den Lebenden weilte, verstieg er sich, seine Frau Grimassen ziehend bei der Morgentoilette beobachtend, zu folgender poetischer Huldigung: „Falten und Krähenfüsse sind die Haltestellen der Gesichtszüge“. Trotzdem hat er ihr ein kleines Vermögen hinterlassen, das ihr einen finanziell sorglosen Lebensabend ermöglicht. Wenn am Sarg die Witwe kichert, war ihr Alter gut versichert. Oft genug folgt, so sich der Hausarzt in den Trauerzug eingereiht hat, da auch die Ursache der Wirkung.
Dating-Portal für Spätblüher?
Doch entscheidend sind letztlich die inneren Werte und die Lebenserfahrung. Sie sei offen für alles (weshalb die Dame schon mal nicht ganz dicht sein kann), kulturell vielseitig interessiert, belesen, sportlich aktiv und Neuem gegenüber jederzeit und grundsätzlich aufgeschlossen. Liest sich irgendwie wie eine Bewerbung für das Casting der „Herbstzeitlosen“. Sie habe hier auf „SB“ ein „niveauvolles, seniores (gemeint war wohl honoriges) Umfeld gefunden, das ihren Alltag in der Nach-Männe-Ära wesentlich bereichere. Aber damit kein falscher Eindruck entsteht: Seniorbook ist kein Dating-Portal für Spätblüher, oder doch? Auf jeden Fall aber zunächst einmal ein soziales Netzwerk, in dem sich reifere Ü-60 bis 90-Semester, die ja auch als Mature-Cosumer eine wesentlichen Wirtschaftsfaktor darstellen, über Verbindendes und auch Gegensätzliches austauschen können, wo man/frau Hilfe erfährt, auf Gleichgesinnte stößt und, ja, das natürlich auch , neue mehr oder weniger unverbindliche Bekanntschaften schließen kann.
Um auf das rosige Golden-Girl auf dem Titel zurück zu kommen: Also, auf ein ACDC-Konzert würde ich diese Jungseniorin mit dem leichten Gilbstich nicht unbedingt mitnehmen wollen. Und für den Musikantenstadl fühle ich mich selbst noch nicht abgebrüht genug. Das hat jetzt nix mit dem Aussehen der Lady, die sicherlich viel Zeit darauf verwendet hat, aus der Not eine Jugend zu machen, zu tun. Ab einem gewissen Alter wird/ist die optische Ästhetik sowieso zweitrangig. Eine propere Physiognomie verliert gegenüber anderen, wichtigeren Werten und Qualifikationen an Bedeutungsschwere. Dazu zählt zum Bleistift eine abgeschlossene Pflegeausbildung. Gut Kochen ist keine zwingende Voraussetzung, aber auch kein Hinderungsgrund.
Powershopping im Sanitätshaus
Zeit für eine erste Zwischenbilanz: An Vorschlägen für eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung hatte ich mir auf diesem Facebook für Greise mehr erhofft: gemeinsame Arztbesuche, eine Werksbesichtigung bei der Firma Sanimed, dem Treppenlifthersteller meines Vertrauens, Aktiv- und Erlebnisshopping im Sanitätshaus um die Ecke, Nachmittags-Tee im Wartezimmer des Orthopäden oder ein intimes Candle Light-Dinner in (Grauer) Star-Besetzung beim Augenarzt. Fehlanzeige. Auch in der Kreativabteilung wartet nix Aufregendes, etwa einarmiges Batiken in der Dreiviertelliter-Klasse, Töpfern mit Stahlbeton, Gehkrücken-Mikado oder Stützstrumpf-Häkeln. Der der Geselligkeit geschuldeten Kontaktpflege könnte man beispielsweise doch auch mit einem fröhliches Rezepte-Raten, einem lustigen Nachttopfschlagen oder einem virtuellen Urologen-Bashing Genüge tun. Beim Rezepte-Raten gilt es, anhand der kryptischen Unterschrift des Hausarztes die Haarfarbe der blonden Sprechstundenhilfe zu ermitteln. Warum nicht auch mal einen monatlich wiederkehrenden Poetry-Slam veranstalten, bei dem die Wettbewerbsteilnehmer unter Turnierbedingungen ihre Krankengeschichten in Versform vortragen? Aber Fehlanzeige. In dieser Hinsicht sind die Schnarchsäcke und –säckinnen hier ziemlich unkreativ und konservativ.
Der Renner bei Seniorbook ist derzeit die Onlineversion von „Dreh dich nicht um, der Plumpsack geht rum“ unter Verwendung spielerischer Elemente von „Die Reise nach Jerusalem“ und „Stille Post“. Ich habe aber das komplizierte Reglement aber noch nicht ganz kapiert. Und in den Chatecken geht es u.a. um After-Würg-Partys in trauter Einsamkeit, Maggi-Würzmischungen und meditative-spirituelle Langzeiturlaube mit Kampftrinken auf Gran Canaria. Im „Cafe-Chat“ nebenan nöhlen Nobbi, Lisa, Biker und Karl V. Die Frage, wie lange eine Katze trainieren muss, um ein Muskelkater zu werden, beschäftigt sie seit Stunden.
Von Kopf bis Fuß die Liebe eingestellt
Die Flirt-Lounge ist fest in der Hand von „James Bond“ und „Snoopy“. Inspiriert durch den Film “Altersglühen – Speed Dating für Senioren“ und in Ermangelung adäquater Gesprächspartnerinnen geben sich diese beiden schlimmen Finger gegenseitig Tipps aus der Praxis für die Praxis. Im Hintergrund läuft in einer Rap-Version der unsterbliche Evergreen der engelsgleichen blauen Marlene-Zweitschlüssel: „Ich hab‘ von Kopf bis Fuß die Liebe eingestellt“. Ein gewisser Alex aus Wien ist gerade als Dritter im Bunde dazugestoßen und bemüht sich, dem eindimensionalen Verbal-Balz ein gewisses intellektuelles Niveau zu verleihen: „Heast, Oida! Do griagt ma ja glei hunga“, oder „Nächtle schwoob awwa die mauldascha bleiwa doh gell grins“. Er weiß bestimmt nicht, was er da sagt, meint es aber wohl genauso.
Arthrose für Fortgeschrittene
Auf der gähnend leeren „Tanzfläche“ verrenken sich nur Major Tom, Mulanice und Ria die gicht-veredelten Extremitäten. Der „Stammtisch“, an dem sich Hardy, Gerda Paul und Egon regelmäßig die virtuellen Bierchen in die Köpfe hauen, scheint mir da noch der interessanteste Platz in diesem Schattenreich der Krampfadern zu sein. Ein „Kaminzimmer“ gibt es auch. Dort wärmen sich gerade Stefan, Bettina, Charley, Wiebke und Klaus-Dieter auf und streiten darüber, ob ein Raumschiff, das ausschließlich mit Frauen besetzt ist, als unbemannt gelten kann. Auch darüber, ob es in einem Schaltjahr statthaft ist, Automatik zu fahren, wäre noch zu reden. Wem diese Themen zu akademisch sind, kann aber auch sein eigenes Diskussionsforum gründen. Habe ich gemacht: Arthrose für Fortgeschrittene. Bisher bin ich aber das einzige Mitglied in diesem Debattierclub.
Der Haiiinz in der Eisdiele
Und das ist auf die Dauer zu langweilig. Also doch zurück zu Facebook. Da will ich es gerne aushalten, dass Gabi, eine mir nur flüchtige bekannte Nebenwerbs-Karnevalistin aus dem Hochsauerlandkreis, meint, mich täglich mindestens viermal mit aktuellen Statusmeldungen über den Stand ihrer Ermittlungen im Online-Tatort-Spiel „Criminal Case“ versorgen zu müssen. Das Mädel nimmt ständig neue Spuren auf, ist aber selbst neben einer solchen. Und Biggi hat mal wieder ein neues Level der „Farm Heros Saga“ abgeschlossen. Meine Begeisterung ist grenzenlos! Wahnsinn! Die Nachrichten von der existentiellen Güteklasse eines gewissen Haiiinz, jenes breit schwäbelnden Frührenters aus dem Kraichgau, dass er mal wieder in irgendeiner bescheuerten Eisdiele im badischen Outback hockt und gemischtes Vanilleeis mit Fondor-Dressing in sich rein schlingt, kann ich dann ebenfalls verschmerzen. Und das gilt samt und sonders auch für die Werbung für Seniorbook. Die sollen mich in 20 Jahren noch mal fragen…