Von Jürgen Heimann
Es ist der nie endende Konflikt zwischen Frischluftfanatikern und jenen, die kurz vor dem Erfrierungstod stehen – sommers wie winters. Die Kämpfe um den Status quo von Raumtemperatur und Belüftungsintensität werden mit harten Bandagen geführt. Alltag in deutschen Büros und denen andernorts. Dort herrscht meist dicke Luft, im tatsächlichen wie im übertragenen Sinne des Wortes. Sie wird auch von der Populationsdichte beeinflusst. Je mehr Mitarbeiter auf engstem Raum zusammengepfercht sind, umso höher sind die Abgaswerte. Da wird der Arbeitsplatz zur Oktan-Arena. Für viele ein tagtägliches olfaktorisches Martyrium. Das der österreichische Psychologe und Aphoristiker Gerald Dunkl so beschreibt: “Die Luft in der Welt ist spröde und stickig geworden, die Menschen haben in ihr den Verbündeten ihres Untergangs gefunden”.
Keine Ahnung, welche abgedrehten bio-chemischen Prozesse beispielsweise im Organismus meines Kollegen ablaufen. Er heißt Rolf. Vielleicht liegt es an einem Defekt der Chromosomenstruktur. Oder am Magnesiummangel. Denkbar wäre auch eine Schilddrüsenunterfunktion.Der Knabe, der in der genetischen Lotterie wohl ziemliches Pech gebaht hat, fühlt sich erst dann wohl, wenn der Kohlenstoffmonoxidgehalt der Raumluft mindestens dem der Entgasungsschleuse einer industriell betriebenen Fischräucherfabrik in Aserbeidschan entspricht. Erst wenn sich die ersten kondensierten Tropfen auf den Neonleuchten an der Decke bilden, ist die Welt für ihn in Ordnung.
Aus der toxischen Ursuppe direkt an den Schreibtisch
Möglich, dass das entwicklungsgeschichtlich und evolutionsbiologisch bedingt ist und noch aus jenen grauen Vorzeiten herrührt, als seine Vorfahren, Einzeller wie er, aus der toxischen Ursuppe an Land gekrochen waren, wo die Atmosphäre aber auch nicht wesentlich besser war und im Wesentlichen aus giftigen Schwefel- und Ammoniakdämpfen bestand. Das muss ein prägendes Erlebnis gewesen sein, das sich über Generationen kultiviert hat und wahrscheinlich über die DNA weiter gegeben wurde.
Der Kollege sei wechselarm, hat der Betriebsarzt in einem vertraulichen Gutachten festgestellt. Es handelt sich also um einen Ektothermiker. Das kennt man von Fischen, Amphibien, Reptilien und Insekten. Die können ihre Körperwärme auch nicht selbst bzw. vegetativ regulieren und sind abhängig von der Umgebungstemperatur. Was eine Menge erklärt. Lässt sich ja in jedem Terrarium beobachten. Bei Kälte sind die Viecher weniger aktiv als bei Hitze. Genau wie Rolf. Wenngleich bei ihm die Unterschiede zwischen aktiv und passiv kaum messbar sind. Man muss schon genau hinschauen, in welchem Aggregatzustand er sich gerade befindet. Daheim schläft er übrigens in einem Gewächshaus, im Büro auf der Tastatur.
Wir träumen vom Death Valley
Das ist eine echte Trophäe, oder Koryphäe, oder wie das heißt. Frische Luft und Sauerstoff fürchtet der Mann wie der gehörnte Beelzebub das Weihwasser. Auf die Idee, sich durch Muskelzittern und Flügelschlag Kühlung zu verschaffen, wie es einige staatsbildenden Insekten zu tun pflegen, würde er nie kommen. Das wäre zu viel an Aktivität verlangt und wäre seinem erklärten Ziel, irgendwann im eigenen Muff zu ersticken und somit einen schönen Tod zu finden, auch nicht förderlich. Klimaanlagen sind Teufelswerk. Deswegen dürfen sie, einst für zigtausende von Euro angeschafft, auch nicht eingeschaltet werden. Rolf schmort lieber im eigenen Saft und träumt vom Death Valley. Oder der Wüste Dascht e Lut.
Die Fenster müssen natürlich hermetisch verschlossen sein. Und bleiben es auch. Selbst wenn draußen 30 Grad herrschen – und drinnen 37. Sie zu verriegeln ist morgens die erste Amtshandlung. So eine Art heilige Pflicht. Nicht von ungefähr gilt Kollege dicke Luft auch als ein großer Fan der Doofen. Als solche hatten Wigald Boning und Olli Dittrich 1996 mit ihrer ersten Singleauskopplung einen Nr.1-Hit gelandet. Der Song hieß bezeichnenderweise “Mief”.
Während das Gehirn normaler Menschen schon im Ruhezustand ein Fünftel des gesamten Sauerstoffbedarfs des Körpers beansprucht, gelten für den Kollegen völlig andere cerebrale Gesetzmäßigkeiten. Eine entsprechende Versorgung der Denkzentrale mit sauerstoffreichem Blut findet hier so nicht statt und braucht es wohl auch nicht. Das Blutvolumen je 100 ml Hirnsubstanz liegt in Ruhe normalerweise bei knapp 4 ml. Rolf kommt mit 0,2 Millilitern aus. Er war schon immer ein sparsamer Typ. Und er ist nicht alleine.
Hygienephobiker und Deodorantverächter
Zwölf Mitarbeiter, auf engstem Raum in einem 40 Quadratmeter großen/kleinen Kabuff zusammengepfercht, da sitzt das Konfliktpotential automatisch mit am (Schreib-)Tisch. Zumal dann, wenn es sich in der Mehrheit um Hygienephobiker und Deodorantverächter handelt. Klima- und lufttechnisch kann man es sowieso keinem/keiner recht machen. Also müssen Kompromisse geschlossen werden, die aber meist ziemlich einseitig ausfallen.Oft genug obsiegen die, die am meisten über Zugluft und Kälte jammern. Deshalb mockert es im Büro schon am frühen Vormittag, als würde ein toter Esel in der Ecke liegen.
Was für ein Odeur! Ein Externer, der sich in der Türe geirrt hatte, gebrauchte in diesem Zusammenhang den Begriff “Hautgout-Tosca”. Da musste ich erst mal Google fragen, was das ist. Im Internet fand sich folgende Definition: Als Hautgout werde in der Küchensprache der süßlich-strenge und intensive Geruch bzw. Geschmack von überlang oder zu warm abgehangenem Wild oder auch anderen Fleischarten bezeichnet. Es handele sich um Verwesungsgeruch, der durch die Zersetzung des Fleischeiweißes entstehe (Fäulnisprozess). Das würde das mit dem Esel in der Ecke erklären.
Umwerfender Aroma-Cocktail: Mett und Kanal No. 5
Apropos Küche. Unser Schreibzimmer ist ja irgendwie auch ein Multifunktionsraum. Zumal Essen und Trinken bekanntlich Leib und Seele zusammenhalten. Das gilt auch für Mett- und Heringsbrötchen, Krautgerichte und Currykompositionen. Kohlrabi schmecken übrigens deutlich besser als sie riechen. Reden wir nicht von den anschließenden oralen Blähungen, die wie der Brodem des Todes als Aasbrisen aus diversen Rachengruben an die Oberfläche drängen. Man gewöhnt sich zwar an alles, aber das hier können weder Nase noch Gehirn gänzlich und dauerhaft ausblenden. Aftershave vom Billigheimer (Kanal No. 5) und das aus Sandalen hervorquellende, von Socken al Forno ausgehende Schwassla-Aroma ergeben zusammen einen umwerfenden toxischen Duft-Cocktail.
Raumklimatologen kennen die negativen Auswirkungen auf Befindlichkeit, Leistungsfähigkeit und Gesundheit der Betroffenen als “Sick Building Syndrome” (SBS). Typische Symptome sind Reizung der Schleimhaut, Hautausschläge, Kopf- und Rückenschmerzen sowie Augenbrennen, Konzentrationsschwäche und Lustlosigkeit. Die Ursachen vermuteten Arbeitsmediziner bisher in Schadstoffbelastungen durch Baustoffe und Elektrosmog, aber da ist noch mehr.
Hin – und hergerissen zwischen Olf und Rolf
Menschliche Geruchsemissionen werden in “Olf” gemessen und angegeben. Ein “Olf” ist per definitionem die Geruchsquellstärke, die jeder Mensch mit normal arbeitenden Drüsen bei leicht sitzender Tätigkeit, täglich wechselnder Unterwäsche und 0,7 Duschen pro Tag ausdünstet. Aber was ist schon normal? Die Größe sagt nichts über die Qualität des Duftes aus, sondern reflektiert die Intensität seines Auftretens. “Olf”, verkürzt auch als “O” verwendet, leitet sich vom lateinischen “Olfactus” = Geruchssinn ab. So verströmt ein 12-jähriges Kind beim Spielen zwei O, während ein Athlet nach dem Training 30 O emittiert. Insofern müsste unsere Bürobesetzung ausnahmslos aus Hochleistungssportlern bestehen. Ab einem dreiziffrigen Wert spricht man auch nicht mehr von “Olf” sondern von “Rolf”. Siehe oben.