Von Jürgen Heimann
Der Bursche war so eine Art frühe Ausgabe von Professor Brinkmann, dessen Schwarzwaldklinik im persischen Istfahan stand. Ibn Sina hieß der, und war im 11. Jahrhundert der angesagteste Chefarzt seiner Zeit. Medizinstudenten aus aller Welt lernten bei ihm das kleine Einmaleins der Chirurgie. Auch Rob Cole aus Brexitanien. Besser bekannt als „Der Medicus“. Auf dem gleichnamigen, 1986 erschienen Bestseller von Noah Gordon basiert das auch so betitelte Erfolgsmusical, das nach seiner Welturaufführung in 2016 in diesem Jahr zum vierten Male in Folge im Fuldaer Schlosstheater zu sehen war. Ein Bühnenerlebnis der ganz besonderen Art.
Nach der „Päpstin“ als zweite Inszenierung im Rahmen des diesjährigen osthessischen Musicalsommers gesetzt, erwies sich die geglückte Stage-Adaption des literarischen Welterfolgs erwartungsgemäß wieder als Kassen- und Publikumsmagnet. Die letzte Sprechstunde in der Bischofsstadt endete am 4. August. Der Dotore hat sein Notfallbesteck eingepackt und seine Approbation erst einmal zurückgegeben. Er genießt seinen Vorruhestand, wie lange der auch immer dauern mag, zusammen mit Frau und Kind in den schottischen Lowlands. In Kilmarnock, dem Heimatort seiner Frau Mary.
Fast im Alleingang die Pest besiegt
Das sei ihm gegönnt. Schließlich hat der Mann zuvor fast im Alleingang die Pest in Persien besiegt, den Schah als Freund gewonnen (und wieder verloren), jede Menge Abenteuer bestanden und war zu einem ganz Großen der Heilkunst aufgestiegen. Die komplexe und verästelte Story, wie sie der Romanautor in seinem 600-Seiten-Wälzer niedergeschrieben hat, zu einem dreistündigen Bühnenstück zu verdichten, ohne dass Stimmigkeit und Handlungsflüssigkeit auf der Strecke bleiben, ist schon ein reife Leistung. Und die geht nicht zuletzt auf das Konto von Erfolgskomponist Dennis Martin, der nicht nur die packende Musik beisteuerte, sondern auch für das Buch sowie, with a little help from Co-Autor Christoph Jilo, dem aktuellen Regisseur, auch die Liedtexte und das Libretto verantwortlich zeichnete.
Durch gekonnte Straffungen des Stoffes und eine Reduzierung auf weniger Schauplätze und Figuren, als sie in der Romanvorlage angelegt sind, gelang es, ein Unterhaltungspaket zu schnüren, das alles beinhaltet, was ein gutes Musical braucht und ausmacht. Dazu gehören ein sympathischer, hehre Ziele verfolgender Protagonist, eine dramatische Liebesgeschichte, Freundschaft, Verrat, Verlust und eine (wichtige) Botschaft – die von religiöser Toleranz kündet. Und das Ganze eingebettet in das rasante Bewegungsvokabular einer Kim Duddy. Hier eine Szene aus der der ersten Aufführungsreihe in 2016 mit Friedrich Rau als Rob Cole und Andreas Wolfram als Schah:
An der Personalschraube gedreht
Gegenüber der 2018er Medicus-Version gab es kaum Veränderungen, und wenn, waren diese allenfalls rudimentärer Art und somit kaum erkennbar. Auf der personellen Seite fielen drei Wechsel auf. Sascha Kurth, bislang als alternierender Rob Cole alias Jesse ben Benjamin gesetzt, übernahm den Part der Titelfigur als neue Nr. 1. Keine leichte Aufgabe. Vorgänger Friedrich Rau hier ziemlich große Fußspuren hinterlassen. Aber der Künstler aus Herne, der mit Unterbrechungen seit 2011 in Fulda agiert, meisterte diese Herausforderung souverän und mit großem schauspielerischem und vokalen Einsatz, sehr temperamentvoll, sehr emotional.
Kurth harmonierte, auch stimmlich, bestens mit seiner Herzensdame Mary Cullen, die diesmal von Johanna Zett verkörpert wurde: „Wenn die Sterne mit uns sind“. Was sie drauf hat, zeigte die Aktrice bei „Kilmarnock“, einer herzergreifenden Liebeserklärung an ihre schottische Bühnenheimat. Auch der sprühende Gute-Laune Song „Ein Arzt in der Familie“ im Duett mit Fara, (Sharon Rupa), der Frau von Robs jüdischem Studienfreund Mirdin (Kristian Lucas), bleibt in Erinnerung.
Ethan Feemann für Reinhard Brussmann
Die Aufgabe, jemanden zu finden, der die Rolle des „Arztes aller Ärzte“, Ibn Sina, angemessen würde ausfüllen können, war schwer, aber nicht unlösbar. Reinhard Brussmann, dem dieser Part wie auf den Leib geschnitten scheint, hatte passen müssen, weil sich die aktuelle Spielzeit mit den Proben für die Ende August anstehende Bonifatius-Open-Air-Reihe überschnitt. Also musste ein anderes musical-isches Schwergewicht her. Und das war Ethan Freeman. Ein in unzähligen Bühnenschlachten erprobter Allrounder, der in Fulda erwartungsgemäß eine hervorragende Figur machte. „Nimm die Last von meinen Schultern“: Wow!
Christian Schönes große Stunde
Ja, und da wäre noch der junge Schah, den zu geben sich der junge, sprunghafte Medizin-Student Karim nach dem Pesttod seines Onkels plötzlich veranlasst sieht. Das ist die Stunde des Christian Schöne. Mit Power und exzessiver Leidenschaft stürzt sich der Künstler in das Geschehen. Er ist der „heimliche“ (aber für alle sichtbare) Protagonist der Show. Der Wandel vom kumpelhaften Partyboy und Studienfreund zum von der Macht korrumpierten Herrscher markiert der stimmgewaltige Hesse mit obsessiver Inbrunst und Hingabe. Trotz der Ambivalenz der von ihm verkörperten Figur kassiert Schöne beim Schlussapplaus mit den meisten Beifall – zu Recht. „Es ist alles nur ein Spiel“.
Schrullige Nebencharaktere
Zum Teil schrullige Nebencharaktere sorgen zwischendurch für Heiterkeit und Witz. Der Bader (Sebastian Lohse) beispielsweise, bei dem der Junge Rob nach dem Verlust seiner Familie in die Lehre geht und der seinen Klienten Tinkturen äußerst zweifelhaften Inhaltes andreht. Vielleicht war es genau diese Tatsache, die in dem Jungen den Entschluss reifen ließ, ernsthaft Medizin zu studieren, um den Menschen zu helfen, nicht um sie zu schröpfen: „Ich muss es tun“. Auch der trinkfreudige Cullen-Senior James und der versnobte Großwesir, beide in Personalunion von Leon van Leeuwenberg verkörpert, gehören zu diesem Panoptikum schräger Individuen. Neben den eindeutig Guten gibt es aber auch das personifizierte Böse, beispielsweise in Gestalt des „Quandrasseh“. Ein fanatischer Mullah als Verwalter der Universität von Istfahan. Das sieht mal plötzlich einen ganz anderen Sebastian Lohse.
Stille Momente, Tod Einsamkeit, Verzweiflung und Trauer auf der einen, opulent inszenierte, temporeiche Ensembleszenen voller Ausgelassenheit auf der anderen Seite, beim „Medicus“ gibt’s von allem reichlich. Farbenfrohe Kostüme und ein wandlungsfähiges, von stimmigen Videoprojektionen unterstütztes Bühnenbild, das Handelnde und Zuschauer in Nullkommanix von den sturmgepeitschten Küsten Englands in die Schneehölle Bulgariens und von dort aus in die Hitze des Orients katapultiert. Und alles durchdrungen und getragen von einem facettenreichen, zwischen Rock und Pop, Balladen und Up-Tempo-Nummern angesiedelten Melodienzauber. Die Songs gehen ins Ohr, in die Beine und oft genug mitten ins Herz. Das finale „Es fühlt sich nach Heimat an“ zählt in seiner Schlichtheit zu den schönsten und eindringlichsten Kompositionen der 21 Szenen umfassenden Produktion. Zugabe!