Verstörende Szenen haben sich am Mittwoch vor einer Nürnberger Berufsschule abgespielt. Dort mischte die Polizei demonstrierende junge Leute auf, die die Abschiebung eines afghanischen Mitschülers verhindern wollten. Quelle: BR24
Von Jürgen Heimann
Jagdszenen aus Mittelfranken. Diese Bilder stammen nicht aus der Türkei. Auch nicht aus Venezuela. Sondern aus Nürnberg. Sie sind verstörend – und machen betroffen. Und sie beschämen. Je nach persönlichem Standpunkt und politischer Verortung kann man die filmischen Sequenzen, die in Endlosschleife durch das Web und telegen über die Bildschirme geistern und flimmern, unterschiedlich deuten und interpretieren. Was sich ins Gedächtnis so manch fassungslosen Zuschauers einbrennt, ist der Anblick einer hochgerüsteten, martialisch agierenden Polizeistreitmacht, die unter unbewaffneten jungen Menschen wütet. Es sind Schüler. Sie werden zu Boden gerissen, mit Schlagstöcken malträtiert, angerempelt, in Handschellen über den Asphalt geschleift, mit Pfefferspray und Reizgas attackiert oder in den Schwitzkasten genommen. Polizeihunde kläffen und wollen von der Leine gelassen werden, uniformierte Greiftrupps machen Jagd auf Einzelpersonen, die man später als aggressive Rädelsführer bezeichnen wird.
Und das alles, um einen 21-jährigen in Deutschland voll integrierten Berufsschüler afghanischer Herkunft aus dem Verkehr zu ziehen und in Abschiebehaft zu nehmen. Asef N. trug, als er ergriffen wurde, keinen Sprengstoffgürtel. Er ist weder ein verurteilter Straftäter noch ein amtlich bekannter Gefährder, wie sie zu Dutzenden frei und unbehelligt in Deutschland herumstromern. Sondern nur ein junger Mensch, der vor der Gewalt in seiner Herimat geflohen war und sich hier im “christlichen Abendland” eine neue Existenz hatte aufbauen wollen. Im Herbst sollte er eine Schreinerlehre beginnen. Normalerweise kommen die Häscher, um böse ungelittene Buben wie ihn abzuholen, ja nachts oder in den frühen Morgenstunden. Das hielt in noch unseligeren Zeiten auch die Gestapo so. Hier, am Berliner Platz, folgte die Aktion einem anderen Drehbuch. Der Delinquent wurde von Uniformierten frühmorgens um kurz nach acht aus dem Unterricht geholt. Sie wollten ihn abends ins Flugzeug nach Kabul setzen. Für solche Fun-Touren gibt es verschiedene Begriffe: Rückführung, Abschiebung, Deportation.
Doch die Sache ging diesmal gründlich schief und in die Hose. Die Lage eskalierte und dürfte erheblich am bröckelnden Nimbus unserer “Freunde und Helfer” gekratzt haben. Wenngleich die Damen und Herren Ordnungshüter und – aufrechterhalter ja in diesem Zusammenhang wieder einmal, wie so oft, als Erfüllungsgehilfen nur Mittel zum Zweck waren. Die Hauptverantwortlichen hocken in der Münchener Staatskanzlei und in Berlin – und reiben sich die Hände oder waschen selbige in geheuchelter Unschuld, je nachdem.
Befehl ist Befehl: Die Staatsmacht zeigte die Zähne
Etwa 300 junge Leute hatten sich, um ihren Mitschüler zu schützen, am Mittwochmorgen dieser Woche der Ordnungsmacht in den Weg gestellt. Hundert blockierten ein Einsatzfahrzeug, in dem der Jüngling abtransportiert werden sollte. Aber das war des Guten zu viel und brachte das Fass zum Überlaufen. Es gab mächtig was auf die Mütze. Die Staatsmacht zeigte und fletschte, inzwischen mit acht Streifenwagen vor Ort und unterstützt durch Kollegen eines “Unterstützungskommandos” (USK), die Zähne. Da war kein Platz für Sentimentalitäten. Befehl ist Befehl. Der fragwürdige und in solchen Einheiten herrschende Korpsgeist lässt keine Abweichungen zu. Wer sich von den ausgebildeten Nahkämpfern zurückhält oder zögert, dessen Karriere ist vorbei.
Ist der Ruf erst ruiniert: Erst schlagen, dann fragen
Nun eilt den bayerischen “Sicherheitskräften” ja nicht nur daheim der zweifelhafte Ruf voraus, besonders rigoros und gewaltbereit zu agieren. Davon können all jene ein (Klage-)Lied singen, die schon mal das zweifelhafte Vergnügen hatten, mit der bajuwarischen Task Force aneinander geraten zu sein. Sei es im Wendland oder bei Protesten gegen die Startbahn West in Frankfurt. Die Cops aus dem jenseits des Weißwurstäquators gelegenen Freistaat verstehen sich republikweit als Speerspitze im Kampf für Recht(s) und Ordnung. Zurückhaltung in der Wahl der Mittel ist ihr Ding nicht. Motto: Erst schlagen, dann fragen. Eine Maxime, die allerdings bei den Kollegen aus den anderen Bundesländern keineswegs auf ungeteilte Zustimmung stößt.
Klare Kante: Beifall aus der falschen Ecke
Diese Einstellung kann auf dem Boden der rigiden Abschiebepraxis, durch die sich die Bayerische Landesregierung an die Spitze der Bewegung gesetzt hat, besonders gut gedeihen. Und sie dient denjenigen, die sie decken, verlangen und fördern, einzig und allein dazu, Stimmen am rechten Rand abzuschöpfen. Der ungeteilten Zustimmung derer, die für die menschenverachtenden Ideologien völkischer und deutsch-nationaler Rattenfänger besonders empfänglich sind, dürfen sich die Polit-Strategen dabei sicher sein. Die germanischen und teils bereits institutionalisierten Rassehygieniker mögen nach dem Nürnberger Kommandounternehmen Freudentänze aufgeführt haben. Endlich mal wieder jemand, der klare Kante zeigt und hart durchgreift. Vielleicht lässt sich dadurch der ein und andere ja dazu bewegen, bei der Bundestagswahl sein Kreuzchen nicht bei der AfD zu machen, sondern gleich deren etablierte Blaupause, die CSU, zu stützen. Seehofers Horsti wird es ihnen danken. Nicht zuletzt er und sein ihm treu ergebener Adlatus Herrmann wollen zeigen, dass die Merkel’sche Willkommenskultur endgültig der Vergangenheit angehört.
Am Abend demonstrierten vor dem Kultusministerium in München mehrere hundert Menschen gegen “die harte und unmenschliche Abschiebelinie der Staatsregierung”. Mit der Gewaltaktion in Nürnberg sei eine Grenze überschritten worden, hieß es.
Schulzugriffe keine bayerische Spezialität
So berichtete der Bayerische Rundfunk vom Kriegsschauplatz in Nürnberg.
Aber solche Schulzugriffe wie der von Nürnberg sind keine rein bayerische Spezialität. In Nordrhein-Westfalen kann man(n) das auch. Hier waren es Mitarbeiter der Ausländerbehörde gewesen, die zwei Tage zuvor in einem Duisburger Gymnasium eine 14-jährige in Deutschland geborene Nepalesin “einkassiert” hatten. Am Abend saß das Mädel mit seinen Eltern, die bereits seit über 15 Jahren im Michelland lebten, einen Suhshi-Imbiß betrieben und voll integriert waren, schon in einem Flieger der Never-Come-Back-Airline Richtung Südasien. Und Tschüß!
Der umstrittene Polizeieinsatz in Nürnberg hingegen wird auf jeden Fall ein (parlamentarisches) Nachspiel haben. Wenn nicht noch andere. Die SPD-Landtagsfraktion verlangt von Innenminister Joachim Herrmann, der sich ja als Spitzendkandidat der CSU bei der Bundestagswahl für höhere Weihen in Berlin empfiehlt und Bundesinnenminister Thomas de Maizière gerne beerben möchte, umfassende Aufklärung über die Hintergründe. Und vor allem darüber, wer letztendlich für das verunglückte Husarenstück verantwortlich ist. Wäre ja mal interessant zu erfahren, welchem kranken Einsatzleiter-Hirn dieses Kommandounternehmen entsprungen ist. Ein Kameramann, der das Geschehen hautnah und unmittelbar mitverfolgt hatte, schildert bei SPIEGEL-ONLINE seine Eindrücke:
Der große Knall im sicheren Kabul
Für Mittwochabend war von Frankfurt aus ein weiterer Abschiebeflug gen Afghanistan geplant gewesen. Den hatte der amtierende Bundesinnenminister aber dann verschoben, nachdem am gleichen Tag bei einem verheerenden Bombenanschlag in der Hauptstadt mindestens 90 Menschen getötet und Hunderte verletzt worden waren. Darunter auch Mitarbeiter der Deutschen Botschaft, deren Gebäude bei dem großen Knall erheblich beschädigt wurde. Die Entscheidung dürfte dem wackeren Law & Order-Mann nicht ganz leicht gefallen sein. Hatte er bis dato doch stets unverdrossen behauptet, Kabul sei ein sicheres Pflaster. Abgelehnten und zur Abschreckung noch in Deutschland verbliebener Afghanen dorthin zurück verfrachteten Asylbewerbern könne hier kaum etwas passieren. Man müsste über diese naive Einschätzung lachen, wäre die Sache nicht so dramatisch und ernst.
Bundesweite Kritik am Polizeieinsatz
Der ausufernde Polizeieinsatz von Nürnberg hat bundesweit eine Welle der Kritik ausgelöst und für Empörung gesorgt. Er stößt nicht nur im SPD-geführten Rathaus der Stadt und bei der Landtagsfraktion der Sozis auf völliges Unverständnis. Kirchen, Gewerkschaften, Bürgergruppen, Lehrervertreter, Jusos, Grüne, Linke und Flüchtlingsräte sind gleichermaßen entsetzt und verlangen Aufklärung. Der Direktor der Schule beklagt, durch die Aktion sei viel Integrationsarbeit an seiner Lehrstätte zerstört worden. Das Verhalten der Polizei wäre da extrem kontraproduktiv gewesen.
CSU: Professionell und verhältnismäßig
Vielleicht werden die folgenden Untersuchungen ja auch noch weitere unangenehme Details ans Licht bringen. Für eine abschließende Wertung mag es noch zu früh sein. Doch für die CSU ist der Fall jetzt schon klar: “Die Polizei hat professionell gehandelt und die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt”, tönt deren Bundestagsabgeordneter Michael Frieser sachverständig. Das tut sie ja meistens. Ihr Job ist kein angenehmer. Nahezu täglich tragen die Beamten ihre Haut zu Markte und haben es dabei häufig mit Gesocks und Gesindel zu tun. Das prägt. Aber die Nürnberger Schüler gehören definitiv nicht zu dieser Kategorie. Ein bisschen mehr Fingerspitzengefühl und vornehme Zurückhaltung wäre hier nicht schlecht gewesen. Oder war die Gelegenheit einfach zu günstig, um sie verstreichen zu lassen? Davon abgesehen: Diese Einsatzkräfte sind, um in solchen Situationen auch deeskalierend wirken zu können, extra ausgebildet worden. Bei den entsprechenden Unterrichtseinheiten hatten die Nürnberger wohl seinerzeit aber nicht richtig aufgepasst.
Eigentlich sollte man voraussetzen können, dass Beamte bei solchen Lagen einen kühlen Kopf bewahren und ihre Aggressionen und Emotionen im Zaum halten. Wem das nicht gelingt, ist hier fehl am Platze, sollte Innendienst schieben und seine Zeit vielleicht mit der Wartung des neben der Asservatenkammer aufgestellten Cola-Automaten verbringen. Durchaus denkbar aber auch, dass es vielleicht gerade diese Eigenschaften und Defizite sind, die die Draufhauer in Uniform erst für diesen Job prädestinieren. Da wird dann die Grenze zwischen Polizei und staatlich alimentierter Schlägertruppe fließend.
Nachhilfe in Demokratie und Staatsbürgerkunde
Es seien verblendete, links-anarchistische Gutmenschen gewesen, die ihre Ideologie über Recht und Gesetz gestellt hätten, urteilte hingegen ein “Kommentator” über die Widerstands-Schüler. Dabei müsste jeder, der auch nur einen Funken Anstand im Leib hat, stolz auf diese jungen Leute sein. Dass sie das, was in ihren Augen ein unmenschlicher behördlicher Unrechtsakt war, nicht desinteressiert akzeptieren mochten, sondern dagegen aufgestanden waren, und zwar in Inkaufnahme persönlicher Risiken, war Zivilcourage und spricht für sie, aber kaum für ihre Verfolger und deren Claqueure. Ganz nebenbei bekamen diese Menschen bei der Gelegenheit auch praxisnahen Anschauungsunterricht in Demokratie und Staatsbürgerkunde, wie er so ursprünglich nicht auf dem Stundenplan gestanden hatte. Aber sie wissen auch jetzt, dass das Land, in dem sie wohnen, weder christlich noch sozial regiert wird. Viele der Betroffenen dürften das Vertrauen in den Staat ohnehin verloren haben. Wie mag es sich angefühlt haben, von einem Großaufgebot offenbar wild entschlossener und grimmig dreinblickender muskelbepackter Gestalten in Kampfanzügen eingekesselt und angegangen zu werden?
Ein anderer Leserbriefschreiber nannte Asylbewerber “Exemplare”, die Deutschland unmöglich alle durchfüttern könne. Von diesem Terminus ist es bis zum “unwerten Leben” ja auch nicht mehr weit. Ein Bruder im Geiste bezeichnete die Protestler als “Kriminelle”, die nur auf “Bullenklatschen” aus gewesen seien. In diesem Fall wurde freilich umgekehrt ein Schuh draus. Davon abgesehen: Die Teenager sahen ja auch zum Fürchten aus, waren deutlich in der Mehrzahl und bildeten eine waffenklirrende Front, den Gegnern körperlich und von ihrer Ausrüstung her haushoch überlegen.
Kleingeister, Biedermänner und Brandstifter
Die Abschiebung des Mitschülers hätte den Radikalen nur als Vorwand gedient, meinte der schlaue Analyst. Schließlich könnte doch jeder Deutsche, wenn ihm etwas nicht passe, ordentlich bei den Behörden eine Klage einreichen. So einfach ist das. Und dann beschwert sich der Schreiber in gleichem Atemzug über die sich immer weiter verbreitende Einstellung, staatliche Entscheidungen nicht mehr einfach akzeptieren zu wollen und gegen Anordnungen zu protestieren. Wo führt das denn noch alles hin? Es lebe die Obrigkeit! Die mag solche Einstellungen auch. Bei so viel naiver Kleingeisterei kann einem wirklich angst und bange werden. Da wird der Biedermann zum Brandstifter.
Die Prügelknaben der Nation
Die Ordnungshüter in der mittelfränkischen Rostbratwurst-Stadt haben schon mal vorsorglich verlauten lassen, in den eigenen Reihen hätte es mehrere Verletzte gegeben, in denen der Demonstranten jedoch nicht. Die veröffentlichten Videos und Zeugenaussagen strafen diese Darstellung der schwarzen Brigaden Lügen. Die Beamten seien von den Protestlern mit Flaschen, Steinen und sogar mit einem Fahrrad beworfen worden, heißt es. Das zeigt doch gleich, wo die Guten und die Bösen zu suchen sind. Fehlt eigentlich nur noch der Hinweis, dass man sich gegen den Schüler-Mob durch Werfen rosafarbener Wattebäuschchen angemessen verteidigt hätte.
Verzweifelte Suche nach dunklen Flecken
Nachgeschoben wurde dann noch die Erklärung, der junge Afghane, der inzwischen wieder auf freiem Fuß ist, hätte auf der Wache wüste Drohungen ausgestoßen und angekündigt, nach Germany zurückkehren zu wollen, um dann Deutsche zu ermorden. Das hatten die schlagkräftigen Jungs in Dunkelblau und Schwarz vermutlich schon vorher geahnt und waren deshalb so personalstark aufmarschiert. Im Nachgang versuchen sie, den Afghanen zu kriminalisieren und suchen verzweifelt nach dunklen Flecken in dessen Vita. Aber so richtig fündig geworden sind die Detektive bei ihren Recherchen bislang noch nicht. Von der Tatsache abgesehen, dass der junge Mann vor vier Jahren illegal in Deutschland eingereist war und sich während des Asylverfahrens “unkooperativ verhalten” hätte. Gut, neuerdings kann man ihm immerhin auch noch “Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte” anhängen. Weil er nicht ganz freiwillig in die “grüne Minna” eingestiegen war, die ihn in Abschiebehaft bringen sollte. Aber auch die Protestierenden seien keine friedlichen Lämmer gewesen. Mindestens 50 linksautonome Krawallos hätten sich unter sie gemischt. Wo die wohl so plötzlich und wie aus dem Nichts hergekommen waren?
Man darf natürlich nicht verdrängen, dass es zumeist die Polizei ist, die ihren Kopf hinhalten und auch die Konsequenzen fragwürdiger politischer Entscheidungen ausbaden muss. Oft ist in diesem Zusammenhang auch von den “Prügelknaben der Nation” die Rede. Das kann man in dem aktuellen Fall so und so auslegen.