Time to say Goodbye! Ein schmerzlicher Abschied, dessen Stunde aber, früher oder halt später, sowieso gekommen wäre. Das stand von Anfang an fest. In dem aktuellen Fall war’s halt eben etwas früher. „Kralle“ hat im Hotel Mama in Eibelshausen ausgecheckt und sich in die freie Wildbahn verabschiedet. Kralle?
Jepp, diese kleine, knuddelige Waldohreule, zu der der Eschenburger Naturfotograf Uwe Schäfer im Sommer dieses Jahres gekommen war wie die Jungfrau zum Kind. Und, zugegeben, zuletzt war seine gefiederte Adoptivtochter eigentlich auch gar nicht mehr sooo klein. Stattliche 36 Zentimeter hoch mit einer (geschätzten) Flügelspannweite von knapp 90 Zentimetern. Und der Zeiger auf der Waage rückte zuletzt auch deutlich über die 300-Gramm-Marke. Also dem Teenie-Alter längst entrückt. Deshalb: Mädel, wir müssen uns mal über Deine Zukunft unterhalten. Auch wenn ein Blick aus Deinen großen, schwarz-tiefen und unergründlichen, von einer leuchtend, orange-gelben Iris umrahmten Augen einen schmelzen lässt wie Butter in der Sonne.
Dass es eine „Sie“ war, hatte sich an der typischen Gefiederzeichnung des Tieres festmachen lassen. Ebenso am Gewicht. Bei Familie Eule sind die Damen halt generell etwas fülliger als die Herren. Trotzdem, sicher ist sicher, hatte sich der Herbergsvater bei der Taufe mit sich selbst erst einmal auf einen geschlechtsneutralen Namen verständigt. „Die“ Kralle oder „der“ Kralle – das passt eigentlich immer…
Aus der halben Handvoll niedlicher Hilflosigkeit der ersten Tage sollte im Laufe der folgenden Wochen ein stattlicher „Brummer“ erwachsen. Kein Wunder bei der Verpflegung. „All inklusive“ war gebucht. Das Aufzuchtprogramm gestaltete sich ebenso ehrgeizig wie anspruchsvoll und forderte nicht nur den ganzen Mann, sondern auch den Freund und dessen Enkel. Ja, und Nachbars Katze ebenfalls. Die pflegte die stattliche Menge an Mäusen, derer sie täglich habhaft wurde, nämlich nicht selbst zu verspeisen. Daraus erwuchs ein willkommenes Zubrot für den nimmersatten Logiergast von nebenan.
Die größte Sorge jedoch, wie dem eigentlich dämmerungs- und nachtaktiven Fräulein das selbstständige Jagen beizubringen wäre, löste sich dann auch in Wohlgefallen auf. Schäfers Befürchtung, dem Tier Strategie und Taktik, inklusive Rüttelflug, selbst beibringen und gegebenenfalls vorexerzieren zu müssen, erwies sich als unbegründet. Dahingehend wären auch die Fluglehrer des Segelfliegerclubs im benachbarten Hirzenhain didaktisch an ihre Grenzen gestoßen. „Kralle“ entwickelte, von Natur und Instinkt beflügelt, diese Fertigkeit aber quasi aus sich selbst heraus. Und spätestens da war der Zeitpunkt gekommen, verschärft über das Auswildern nachzudenken.Zumal die Balz der Eulen, wie unüberhörbar an den „Huh’s“, „Üüiü’s“ und „Uijo’s“ festzumachen, draußen in der Natur derzeit in vollem Gange ist.
Wenn nicht jetzt, wann dann? Und es war ja von Anfang an erklärtes Ziel, diesem prächtigen und stolzen, in zarter Kindheit aus dem Nest gefallenen Vogel ein Leben in Freiheit zu ermöglichen, Partnersuche und Familiengründung inklusive. Waldohreulen können in freier Wildbahn bis zu 28 Jahre alt werden und leben, zumindest während der „Saisonehe“, monogam. Danach beginnt das Spiel von neuem.
Samstagabend, sternenklaren Herbsthimmel, laues Lüftchen, milde Temperaturen. Bringen wir es also hinter uns. Taschentuch einpacken. Aber ein Abschieds- und Erinnerungsfoto, das musste schon drin sein. „Kralle“ posierte, bis das Foto im Kasten war, geduldig auf einem Ast und flog anschließend lautlos in die Nacht davon. Es wurde ein Abschied auf Raten. Was man nicht Kopf hat… Offenbar erinnerte sich die Eule daran, dass sie eine ihr eigentlich als Wegzehrung gedachte Maus am Waldbahnsteig vergessen hatte, kehrte nach 20 Minuten zurück und ließ sich den Leckerbissen von ihrem Ziehvater aushändigen. Und Tschüss!
Eineinhalbstunden später, der Fotograf hatte die herrliche Sternennacht genutzt, um noch einige Impressionen einzufangen, plötzlich ein Luftzug über dem Kopf. Sekundenbruchteile später landete „Kralle“ vor seinen Füßen im Gras, gab ihre typischen Lockrufe von sich und knapperte am Finger des perplexen Mannes. Ein vertrautes, während der Zeit des Aufpäppelns eingeübtes und oft praktiziertes Ritual. Das war aber in diesem Fall der definitive Abschiedsgruß. Nach dem Start in die Nacht wurde das Tier nicht mehr gesehen. Hoffentlich ein gutes Zeichen.