Rotorman's Blog

Lebenslang in der Warteschleife: Vom
kreativen Potential geduldigen Untätigseins

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Man(n) kann es auch so sehen: Auf etwas zu warten, nimmt uns nur die Zeit, die wir später nicht mehr haben, wenn wir sie brauchen. Foto Pixabay

Von Jürgen Heimann

Warten zu können, ist eine Kunst, die nicht jeder beherrscht. Dabei ist unser ganzes Leben nichts anderes als eine einzige Warteschleife. Der durchschnittlich gestrickte Kohlenstoffler verbringt 374 Tage seines Erdendaseins in einer solchen, wollen Wissenschaftler herausgefunden haben. Windows-Benutzer noch mehr. Aber das scheint noch viel zu niedrig gegriffen. Einer anderen (abenteuerlichen) Studie zufolge sollen Männer nämlich ein ganzes Jahr ihrer ohnehin schon kürzeren Lebenszeit allein damit vergeuden, mehr oder weniger ungeduldig auf das (auch nicht immer) schöne Geschlecht zu warten. Weil das liebliche Wesen im Bad mal wieder nicht in die Puschen kommt.  

Im öffentlichen Raum sind unzählige Zonen und Bereiche für diese erzwungene Form des Untätigseins reserviert: am Bahnhof, im Flughafen, auf dem Flur des Amtsgerichtes oder beim Onkel Doktor. Und die kleinen putzigen, oft so kühn und futuristisch gestylten Häuschen am Straßenrand mit den grün-gelben “H”-Schildern davor dienen dem gleichen Zweck. Entweder dem Hoffen auf bessere (Abfahrts-)Zeiten, oder dem auf den Bus. “Auf etwas zu warten, nimmt uns nur die Zeit, die wir später nicht mehr haben, wenn wir sie brauchen”, hat die deutsche Lyrikerin Damaris Wiesner in diesem Zusammenhang mal von sich gegeben. Während der Aphoristiker Erhard Horst Bellermann Warten als Einblick in die Ewigkeit definiert.

Altwerden mit der Sprechstundenhilfe

Wartezimmer

Warten bis der Arzt kommt. Da kann man auch schon mal mit der Sprechstundenhilfe zusammen alt werden. Interessante Lektüre hilft darüber hinweg. Das Angebot topaktueller Zeitschriften reicht von “Haut & Allergie” bis zur “Ortho-Press”, dem Lifestyle-Magazin für den Arthrosiker von heute.

Eine ganze Industrie lebt gut vom Schlangestehen, dem im tatsächlichen wie dem im übertragenen Sinne dieses Wortes. Die Medienbranche macht sich das zunutze. Die Verlage produzieren ein ganzes Sortiment an Magazinen, die es nur in Wartezimmern gibt. Oder welcher normale Mensch käme auf die absurde Idee, zu Hause beim Frühstück “Haut & Allergie” zu lesen? Oder die “Ortho-Press”, das Lifestyle-Magazin aus dem Patientenverlag für den Arthrosiker von heute. In der Arztpraxis schon. Weil die dort ausliegenden Exemplare des SPIEGEL und des Sterns meist auch schon einige Monate, wenn nicht Jahre alt sind. Und den Playboy gibt es hier eh nicht. Aber der Patient freut sich an diesen Orten, dass er zusammen mit der Sprechstundenhilfe alt werden darf. Hätte er geahnt, dass es so lange dauern würde, er hätte selbst Medizin studiert. Dann wäre es schneller gegangen.

 Wir stehen auf der Leitung: Please, hold the line!

Hotline

144 Millionen Euro haben die Deutschen im vergangenen Jahr in den Warteschleifen diverser Telefon-Hotlines verblasen. Please, hold the line! Foto: Pixabay

Auch in der Leitung wird viel Geld verdient, falls da am anderen Ende mal wieder jemand drauf steht. Nach einen Berechnung der Grünen-Bundestagsfraktion haben die Bundesbürger im vergangenen Jahr 144 Millionen Euro in Telefonwarteschleifen verblasen, in der oft trügerischen Hoffnung, dass am Ende der gebührenpflichtigen Service-Hotline mal ein kompetenter Gesprächspartner abhebt. Und wenn er es tut, ist er häufig nicht kompetent. Oder er geht gar nicht erst dran. Please, hold the Line!

“Herzlich Willkommen bei der Kundenbetreuung der Agentur L´amour. Leider können wir Ihren Anruf derzeit nicht persönlich entgegennehmen, da sich alle Mitarbeiterinnen im Gespräch befinden. Der nächste freie Platz ist für Sie reserviert. Bitte gedulden Sie sich noch einen Augenblick! Wir sind gleich für Sie da. Oder drücken Sie die 2. Benötigen Sie unseren technischen Support, dann drücken Sie die 4”. Man sieht: Warten hat auch ein bedeutende verkehrspolitische und volkswirtschaftliche Komponente.In England gibt es sogar den Beruf des “Waiters”. Warum der so heißt, wird deutlich, wenn die bei uns “Kellner” genannte Servicefachkraft nach eineinhalb Stunden mit leeren Händen an den Tisch zurückkehrt und sich danach erkundigt, was wir denn gleich noch mal bestellt hätten.

 Im Stau auf der Autobahn sind alle gleich

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Warten, dass es endlich weitergeht. Im Stau auf der Autobahn sind alle gleich. Foto: Pixabay

Auch auch hier gilt: Alles wird gut. Hat der alte Tolstoi-Leo auch schon gesagt, sich da nur etwas anders ausgedrückt: “Alles nimmt ein gutes Ende für den, der warten kann”. Nach drei Stunden Stau auf der A 1 spendet diese Erkenntnis aber nicht wirklich Trost. Was zugleich die während einer Ausstellung zum Thema in der Hamburger Kunsthalle aufgestellte These widerlegt, der zufolge Menschen mit Macht nicht warten müssten. Sie ließen höchstens warten. Wenn sich am Horster Dreieck ein mit Steckrüben beladener Gemüsetransporter aus Litauen auf die Seite legt, beißt der zwischen ruhendem Blech eingekeilte cholerische Generalmanager ebenso ins Lenkrad wie der unterbezahlte Aushilfs-Karnevalist vor ihm. Im Stau sind alle gleich. Da bleibt es sich gehüpft wie gehopst, ob der Alte nun zu Hause was zu melden hat oder nicht.

 16 blonde Frauen vor dem Kino

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Warten auf den Regisseur. Casting für eine neue Folge von „Drei Engel für Charlie“. Richtigen. Foto: Pixabay

Was gibt es für unzählige neunmalkluge Sprüche, Aphorismen und Bonbons (vielleicht heißt es aber auch Bonmots), die dem Warten, und nicht nur dem auf Godot, einen Sinn verleihen und uns dazu animieren sollen, unser Leid in Geduld zu (er)tragen. Die beiden Blondinen vor dem Kino führen das ja exemplarisch vor Augen. Sie warten mit stoischer Gelassenheit auf 16 andere, weil der Film erst ab 18 ist. In einem anderen Kontext mag sogar zutreffen, dass, wer zu spät kommt, meist nicht zu warten braucht. Das tut die Wahrheit aber freiwillig, weil sie es gewohnt ist. Bei BILD sowieso. Wobei die saublöde Frage, ob man auf den Aufzug warte, nur eine einzige Antwort verdient: “Nein, ich hoffe, die vierte Etage kommt bald runter!” Die Behauptung, dass der Abwasch warten könne, das Leben aber nicht, ist hingegen nur eine faule Ausrede der geehelichten Haushaltsmanagerin, um damit unschöpferisches Nichtstun zu kaschieren.

 Zwischen Hoffen, Bangen und Nichtstun

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Warten auf den ICE. Knapp 20 Prozent aller Züge der Deutschen Bahn AG rollten im ersten Halbjahr 2017 verspätet ein. Das gilt vor allem für Fernverbindungen. Foto: Pixabay

“Ein Volk kann warten. Es lebt länger als Menschen und Regierungen” hat der österreichisch-ungarische Schriftsteller und Publizist Theodor Herzl (1860 -1904) mal rausgehauen. Da bin ich jetzt mal auf das Ergebnis der Bundestagswahl im September gespannt. In Berlin gibt es ja Figuren (“Wir machen jetzt erst mal nichts, und dann warten wir ab”), die warten in ihren exponierten Positionen schon viel zu lange auf ihre längst fällige Ablösung. Warten ist eng mit Hoffen verbunden. Beides sind nur verschiedene Schuhe desselben Paars. Man hofft auf den Lottogewinn und wartet auf ihn – meist vergebens. Wie auf besseres Wetter bzw. die längst fällige Gehaltserhöhung. Oder hofft auf den Einzug in den Bundestag. Wie die AfD. Hoffentlich auch das vergebens. Bei den Rechtsnationalen war ja bis vor kurze, eine Frau allein am Steuer. Der Autofahrer, der eine solche an der Ampel vor sich hat, wartet und hofft ebenfalls, darauf nämlich, dass die Dame endlich das Gaspedal findet, zumal schon seit gefühlten 60 Sekunden Grün ist. Davon abgesehen: Betrunkene überfahren das Stoppschild, Kiffer warten, bis es grün wird.

 Warum das Gehirn kein Arbeitslosengeld bekommt

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Warten auf das grüne Männchen. Foto: Pixabay

Man kann Wartezeiten aber auch sinnvoll und kreativ überbrücken. Beispielsweise, indem man ambitionierte philosophische Themen von existentieller Bedeutung durchdenkt. Beispielsweise dergestalt, warum das Gehirn des Kollegen kein Arbeitslosengeld bekommt, wie lange ein Moment dauert oder ob es möglich ist, ein Joint-Venture zu rauchen. Das ist aber nicht jedem gegeben. Andererseits soll das “Warten-und-dabei-nicht-zu- viel  Nachdenken” die Königsdisziplin sein, quasi der Schwarze Gürtel unter den Wartegraden. Den meisten Menschen gelingt es jedoch nicht, die Wartezeit mit positiven Gedanken zu verbinden. Sie wird als lästig empfunden. Daraus erwächst eine negative Grundstimmung, die weit über das eigentliche Ereignis hinausgeht und bis zum Verfluchen der gesamten Menschheit führen kann.  Dem gegenüber steht die Erkenntnis, dass wir Menschen das Warten gewöhnlich dann lernen, wenn wir nichts mehr zu erwarten haben. Zumindest glaubt das die österreichische Erzählerin Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach (1830-. 1916) herausgefunden zu haben.

Der Deutsche verschläft 24 Jahre seines Lebens

Schlafen

24 Jahre seines Lebens verpennt der durchschnittliche Mitteleuropäer. Auf diese Weise lässt sich aber auch Wartezeit sinnvoll verkürzen.

Wie dem auch sei: Interessant ist in diesem Zusammenhang, womit die Deutschen ihre Zeit sonst verplempern, wenn sie nicht mit Warten beschäftigt sind. In Moosleitners Postille, dem populärwissenschaftlichen PM-Magazin, war es neulich zu lesen, aufgedröselt am Beispiel eines durchschnittlichen 70-Jährigen oder seines weiblichen Pendants. Demzufolge verpennt bzw. schläft der Durchschnittsdeutsche schon mal vorneweg 24 Jahre und vier Monate seines gesamten Erdendaseins. 12 Jahre stiert er in die Glotze, genau so viel Zeit verwendet er/sie aufs Quasseln. Davon sind allein zwei Jahre und zehn Monate für Klatsch, Tratsch und Witzeerzählen reserviert. Demgegenüber ist die Zeit, die aufs Arbeiten entfällt, mit acht Jahren eher bescheiden bemessen. Ich kenne Leute, die kommen noch mit deutlich weniger aus.

Und aufs Happi-Happi verschwenden die germanischen Mehrzeller im Durschnitt noch weniger Zeit: Fünf Jahre gehen für den aktiven Prozess von Sättigung und Ernährung drauf, wovon dann aber noch mal zwei Jahre und zwei Monate für die Zubereitung (Kochen, Brote schmieren, auf die Bedienung warten) abgezogen werden müssen. Das Ganze muss ja dann auch irgendwie wieder raus. Jeder Mensch verbringt im Durchschnitt ein knappes Jahr seines Lebens auf dem Klo.

Zweieinhalb Jahre hinterm Steuer

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Zweieinhalb Jahre seines Lebens verbringt der Durchschnittsdeutsche hinterm Steuer. Wenn es demnächst Fahrverbote für Stinke-Diesel gibt, könnte sich die Zahl etwas reduzieren. Foto: helenesouza.com/Pixelio.de

Zweieinhalb Jahre sitzt der Deutsche hinterm Steuer, ein Jahr und zehn Monate investiert er in Nebensächliches wie Schul- und Weiterbildung. Ein Jahr und sieben Monate wird Sport getrieben, 16 Monate werden Haus oder Wohnung gereinigt. Das ist nämlich wichtiger als Kultur. Denn nur zwölf Monate sitzt ein gestandener Michel im Theater, im Konzertsaal oder im Kino. Da bleiben gerade noch mal neun Monate fürs Waschen und Bügeln. Genauso viel Zeit erübrigen Mami und Papi, um mit den (eigenen) Kindern zu spielen. Vier Monate (Tendenz steigend) gehen hingegen für Computerspiele drauf, zwei Wochen wird gebetet – wenn auch nicht an einem Stück. Halleluja!

Ein er- und abgefülltes Leben

Das käme dann in der Gesamtsumme einigermaßen hin. Wobei das allerdings Bruttowerte sind, die den Faktor Warten nicht eigens ausweisen, der aber darin enthalten ist. Die aktive und passive erotische Komponente, also die Zeit, die man/frau in die Befriedung entsprechender Triebe investiert, ist hier gar nicht explizit gelistet bzw. berücksichtigt. Diese wichtigen Tätigkeiten können sich sowohl auf die Kategorie Sport und Fortbildung, aber auch die des Bügelns und/oder die des (Bei-)Schlafens verteilen. Wobei vielleicht noch erwähnenswert wäre, dass die Deutschen mehr als 6 Wochen ihres Lebens auf das Vorspiel vergeuden. Und die Suffköppe, die ihre freie Zeit am liebsten bei einem Glas Kirschblütentee in dunklen Spelunken verbringen, sind schon in der Rubrik Ernährung berücksichtigt. Ein er- und abgefülltes Leben.

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In vielen öffentlichen und Zonen Bereichen gibt es eigens ausgewiesene Refugien, in denen die Wartenden ganz unter sich sind. Foto: Rainer Sturm/Pixelio.de

 

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