Von Jürgen Heimann
Auch bei der dritten Anschlussheilbehandlung, die der Chefarzt der Fuldaer Schlosspark-Klinik seinen Patienten hat zuteil werden lassen, war das Wartezimmer wieder proppenvoll. Operation gelungen, alle Kranken, Mühseligen und Beladenen geheilt. Knapp vier Wochen hat der singende Medicus im Rahmen des Musicalsommers 2019 in Osthessen wieder das Skalpell geschwungen. Und damit so manche Pest- und Eiterbeule aufgeschnitten. Am 11. August steht die vorerst letzte OP an. Dann darf der Meister erst mal durchatmen, bevor es, gleiche Welle, andere Stelle, in München in die nächste Runde geht.
Im Deutschen Theater hält der Doc vom 08. bis 25. November 2018 Sprechstunde, um anschließend vom 14. Dezember 2018 bis 3. Januar 2019 dem Rattenfänger in Hameln Konkurrenz zu machen. Das von der Fuldaer Spotlight-Musicals GmbH produzierte und 2016 welt-uraufgeführte Stück ist, wie man sieht, auch ein Exportschlager. Die interessanteste Personalie, die schon vor dem ersten Auswärtsspiel durchsickerte, ist die: Patrick Stanke, der gefeierte Jean Valjean der Tecklenburger „Les Misérables“-Inszenierung, schlüpft an der Isar in die Rolle des Medizinstudenten Rob Cole. In selbiger hatte bis dato Friedrich Rau (alternierend: Sascha Kurth) Abend für Abend stehende Ovationen eingefahren. Stanke hat sich schon mal warm gelaufen und freut sich auf den neuen Job:
Robin Hood spannt den Flitzebogen
Mit dem ebenso wie „Die Päpstin“ auf einem literarischen Weltbestseller basierenden Stück haben die Fuldaer Musicalmacher nahtlos an ihre seit 2003 währende Erfolgsstory angeknüpft. Auf ihrer To-Do-Liste stehen ja noch weitere ehrgeizige Projekte. Im Sommer kommenden Jahres, vom 22. bis 27. August, wird „Bonifatius“, ihr Erstling, in einer spektakulären Neu-Inszenierung auf dem Domplatz in Fulda open-air aufgeführt. Auf einer 52 Meter breiten und 15 Meter hohen Bühne. Pro Vorstellungen ist Platz für 4.300 Besucher. Schon heute ist ein Großteil der Tickets verkauft. Und im Jahr darauf spannt Robin Hood seinen Flitzebogen. Wesentliche Teile des Soundtracks steuert neben Erfolgskomponist Denis Martin kein Geringerer als Chris de Burgh bei.
„Bonifatius“ ist natürlich ein Feld, das als Titelfigur nur einer bestellen kann: Reinhard Brussmann. Der gilt darüber hinaus in Fulda inzwischen sowieso als unentbehrlich. Bei der Päpstin als „Aeskulapius“, als Schatzinsel-Pirat und eben als Heilkundiger in Isfahan. Auf seinen Schultern ruhen wesentliche Teile der Handlung, auch wenn er erst nach der Pause seinen Arztkoffer öffnet.
Vorlesung bei Ibn Sina
Ibn Sina galt zu seiner Zeit, im 11. Jahrhundert, als Sauerbruch des Orients. Er war der berühmteste Vertreter seiner Zunft, deren anatomisches Wissen freilich allenfalls rudimentär ausgebildet war. So glaubte man, die Eingeweide eines Menschen glichen denen eines Schweins. Den Dingen auf den Grund zu gehen, verbot die Religion, die christliche wie die islamische. Bis der junge Engländer, der den weiten Weg von der Insel bis nach Persien zurückgelegt hatte, um an der Madrassa Medizin zu studieren, in einem gewagten blasphemischen Experiment das Gegenteil bewies. Um seinem Prof nebenbei zu helfen, der Pest, die die Stadt auszurotten drohte, ein Schnippchen zu schlagen. Aber wir greifen den Dingen vor.
Schrullig, fies, trinkfreudig
Ibn Sina ist neben dem jungen Medicus die tragende Säule der Geschichte. Das gilt nicht nur für die Figur selbst, sondern auch für ihr Spiel und vor allem ihren Gesang. Wow! Die Inszenierung gewinnt daneben aber auch durch ein ganzes Panoptikum von zum Teil schrulligen Nebenfiguren an Drive und, ja das auch, an Witz. Der Bader (Daniele Nonnis) ist so ein Charakter, oder James Cullen (Leon v. Leeuwenberg), des Medizinstudenten trinkfreudiger Schwiegerpapa in spe und Großwesir in Personalunion. Nonnis kann aber auch anders. Viele der im heutigen Iran tonangebenden fanatischen Mullahs und Religionswächter mögen sich diesen „Quandrasseh“ zum Vorbild genommen haben. „Karim“, der zum Schah aufgestiegene Studienfreund Robs, ist bei Christian Schöne wundervoll aufgehoben. Der gebürtige Hesse verleiht dem Herrscher Konturen, Tiefe und charakterliche Ambivalenz – durch ausdrucksvolles, dynamisches Spiel und eine volltönende Stimme.
Im spielfreudigen und offensichtlich hoch motivierten Ensemble gibt es einige neue Gesichter. Der größte Zugewinn kommt in Gestalt von Judith Jandl daher. Die Steierin ist „Mary“, Herzensdame und spätere Ehefrau des Mr. Cole. Dafür eine adäquate Nachfolgerin von Sabrina Weckerlin zu finden, war nicht leicht, ist aber geglückt.
Packende Choreographie
”Der Medicus” ist die bislang aufwändigste Spotlight-Produktion, wurde aber im Vergleich zur Version 2.0 hier und da auch noch mal überarbeitet und ergänzt. Da fließt viel Energie, auch sichtbare. Beispielsweise dann, wenn der junge Bader und spätere Arzt allein durch Händchenhalten spürt, ob sein Patient zum Tode verurteilt ist oder überleben wird. Die Winterquartierszene in der bulgarischen Gebirgsstation wurde gestrafft. Im Gegenzug spendierte Dennis Martin seinem Helden einen neuen Song: „Es gibt keine Wahl“. Erste Wahl!
Die Produktion lebt nicht nur von den packenden Melodien des Erfolgskomponisten. Und auch nicht ausschließlich vom ambitionierten Spiel der Cast oder der stimmigen, einfallsreichen Regie eines Christoph Jilo. Kim Duddy heißt die Frau, die ebenso viele Erfolgsanteile besitzt. Ihre kreativ-turbulente Choreografie ist das Sahnehäubchen auf dem Ganzen.
Einen Besuch des Musicals, das auch im nächsten Jahr wieder auf dem Fuldaer Spielplan steht, gibt es leider nicht auf Attest. Aber die Tarife sind gemessen an anderen, mitunter sogar deutlich schwächeren Produktionen in anderen Spielstätten, moderat. Und ob da jetzt ein großes Orchester oder eine bescheidende Live-Band aufspielt oder die Musik wie hier aus der Konserve kommt, ist wirklich nicht kriegsentscheidend.