Von Jürgen Heimann
Den Praxistest hatte die Maginot-Linie seinerzeit ja nicht bestanden. Das lehrt die Geschichte. Aber wenigstens hatte das Bollwerk weiland in zehnjähriger Bauzeit (nahezu) fertiggestellt werden können – im Gegensatz zum neuen Hauptstadt-Geisterflughafen in Berlin. An dem wird ja seit 2006 herumgepfuscht, ohne dass ein mehr oder weniger erfolgreiches Ende abzusehen ist. Auch kommt die vergurkte Airport-Ruine heute schon teurer als das Defensiv-System der Franzmänner, das sie sich zwischen 1930 und 1940 fünf Milliarden alte Francs hatten kosten lassen. Das Geld war – das gilt für beide Fälle – in den Sand gesetzt. Die angeblich unbezwingbare Verteidigungslinie entlang der Grenze zu Belgien, Luxemburg, Deutschland und Italien, mit der sich unsere französischen Nachbarn gegen Einfälle ihres germanischen Erzfeindes schützen zu können hofften, erwies sich als Flop….
Die nichtsdestotrotz imposante, nach dem damaligen französischen Verteidigungsminister André Maginot benannte und mit dem deutschen „Westwall“ vergleichbare Grenzsicherung, die in verschiedene Verteidigungssektoren und Festungsabschnitte unterteilt war, ist heute, fast 80 Jahre später, noch in Teilen erhalten und zu besichtigen. Zahlreiche Standorte beherbergen Museen und Ausstellungen. Aber der größte Teil der überwiegend unterirdisch angelegten und teils miteinander verbundenen Einrichtungen, ob es sich nun um Bunker, Forts, Kasematten, Beobachtungsposten, Artillerie oder Infanteriestellungen handelt, wurde inzwischen „geschliffen“ bzw. ist zerfallen, eingestürzt und/oder gesperrt. Oder es ist buchstäblich Gras über die Sache gewachsen. Nichts oder kaum etwas deutet mehr darauf hin. Von den verstreut im Gelände wie gestrandete Ufos aus dem Erdreich hervorragenden stahlgepanzerten Kuppeln mal abgesehen, unter denen sich einst Beobachtungsposten, Geschütze, MG-Nester und Lüftungsanlagen verbargen.
Kilometerlange Gänge, Hallen wie Kathedralen
Aber die Anlagen gibt es noch. Sie schlummern im Erdreich. Weit verzweigte Tunnelsysteme, Hallen mit den Ausmaßen von Kathedralen, kilometerlange Gänge, meterdicke Stahltüren, Geschützfragmente, Kanonenrohre, Versorgungsleitungen, Aufzüge, Mannschaftsunterkünfte, endlose, ins tiefe Nichts führende Treppen. Eine geheimnisvolle, verborgene (Unter-)Welt, von der die meisten, die eigentlich drauf stehen, nichts ahnen. Die Beschaffenheit des Terrains gibt kaum einen Hinweis darauf, was sich unterhalb der Grasnarbe verbirgt. Man muss schon genau wissen, wonach man wo sucht. Und dann öffnen sich, Simsalambim, diverse Türen, Tore und Einstiege.
Das ist nicht immer ganz „legal“. Die Behörden und das Militär sehen es nicht gern, wenn sich Unbefugte dort umschauen. Aber genau das erhöht den Reiz, es trotzdem zu tun. Wohl wissend, dass es nicht ganz ungefährlich und mit diversen Risiken verbunden ist. Wovon sich passionierte Lost-Places-Freaks aber nicht abschrecken lassen. Für entsprechend disponierte Fotografen sind solche Flecken real existierende Shangri-Las, verwunschene Traumziele, die es zu erforschen gilt. Auch für das aus Ehringshausen stammende Fotografen-Ehepaar Markus und Ingrid Novak ein „must go“.
Eine eigene (Unter-)Welt für sich
Die einzelnen Standorte wurden, unabhängig von ihrer Aufgabenstellung, „Werke“ genannt. Man unterschied zwischen großen und kleinen, sogenannten GO’s (gros ouvrages) und PO’s (petits ouvrages). Sie waren größtenteils autark, verfügten über eine eigene Wasser- und Stromversorgung und waren mit Luftfilteranlagen ausgestattet. Die Besatzungen konnten hier dank entsprechender Lebensmittelvorräte wochenlang ausharren. Die personelle Größe schwankte zwischen 1.500 und 100 Mann. Zu den größten Einrichtungen gehörte die Artilleriestellung bei Rochonvillers (Ruxweiler), einem 210-Seelen-Kaff im Département Moselle in der Region Lothringen nahe der luxemburgischen Grenze. Sie war zugleich von den Baukosten her die drittteuerste des gesamten Abwehrsystems und bestand aus neun verschiedenen Kampfblöcken, in denen mächtige Geschütze unterschiedlichsten Kalibers in Stellung gebracht waren, sowie zwei Eingangsbunkern. Die einzelnen Sektoren waren durch in 30 Meter Tiefe verlaufende Stollen miteinander sowie mit den unterirdischen Kasernen und Magazinen verbunden. Die Stellung verfügte sogar über einen eigenen unterirdischen Bahnhof. Eine Schmalspurbahn führte vom Munitionsdepot in Florange direkt ins Werk, um es mit allem Notwendigen zu versorgen.
Den aufwändigen Bau hätte man sich sparen können
Die Besatzungsstärke betrug damals 1.940 Mann. Eine tragende Rolle bei der Verteidigung des Vaterlandes hat die Anlage in unseligen Kriegszeiten jedoch nicht gespielt. Die deutschen Invasoren ließen das Werk 1940 erst einmal einfach links liegen und umgingen es weiträumig. Später wurde es dann mit Artillerie und Luftwaffenunterstützung unter Feuer genommen. Die Wehrmacht nutzte die Anlage nach ihrer Evakuierung dann vorübergehend als Truppenquartier, ehe die US-Army hier die Oberhand gewann. Die Amerikaner experimentierten an Ort und Stelle mit panzerbrechenden Waffen – als Vorbereitung für den Angriff auf den Westwall.
Der morbide Charme der Vergänglichkeit
Die weitläufige, unterirdische und als „A 8“ bezeichnete Gefechtsanlage war nach dem Krieg zunächst noch von der NATO genutzt worden. Anschließend, und das bis zur ultimativen Stilllegung im Jahre 2001, machte das französischen Militär hier von seinem Hausrecht Gebrauch. Sie zieht, obwohl nach wie vor als militärisches Sperrgebiet ausgewiesen, Hobbyforscher und Abenteuerlustige aus ganz Europa an. Den Verlockungen konnten auch die Novaks auf Dauer nicht widerstehen. Die beiden Pixelfreaks haben sich auf derlei verlassene Orte spezialisiert. Der morbide Charme der Vergänglichkeit zieht sie an wie das Licht die Motten. Ebenso die Stille und die Einsamkeit solcher Locations. „Rotten Places“ dieses Kalibers sind gespenstig und unterhaltsam zugleich. Brüchige Gemäuer, die bröckeln und stauben und an denen der Zahn der Zeit nagt, obwohl diese, die Zeit, hier eingefroren scheint. Offensichtlich ist: Diese Ruinen können noch so manch spannende Geschichte erzählen.
Abstieg ins mysteriöse Reich der Dunkelheit
In Begleitung ihres Kollegen Fabian Hölzel wagten Markus und Ingrid Novak den Abstieg ins mysteriöse Reich der Dunkelheit. Sie verstehen sich auch als Chronisten, die mit ihren Kameras das festhalten, was irgendwann unwiderruflich verschwunden sein wird. Natürlich gibt es für sie und ihresgleichen „Points of interest“, die berühmter und faszinierender sind, aber eben auch weiter entfernt und deshalb, wenn auch nicht gerade unerreichbar, so doch nicht mal eben auf die Schnelle zu erkunden. Diverse Geisterflughäfen gehören dazu. Und wir reden jetzt nicht vom „BER“. In diesem Zusammenhang wäre der 1974 aufgegebene und seitdem leerstehende Nicosia Airport auf Zypern zu nennen, ebenso der 2001 von den Israelis zerstörte Yasser Arafat International Airport in Palästina oder der 2001 außer Betrieb gestellte Hellenikon-Lufthafen vor den Toren Athens. Immerhin gibt es für das 620 Hektar große Gelände ein neues Nutzungskonzept. Ein Konsortium will dort über acht Milliarden Euro investieren, in den Bau von Luxushotels und Wohnanlagen.
Filmkulisse für den „Blade Runner“
Die ehemals von ethnischen Griechen bewohnte Geisterstadt Kayaköy in der Türkei, südlich von Fethiye in einem felsigen Gebirgstal gelegenen, ist weltberühmt. Die über hundert Häuser sind nach der Vertreibung ihrer Besitzer seit einem Jahrhundert unbewohnt. Oder Prypiat in der Ukraine. Die Stadt wurde nach dem Reaktor-GAU von Tschernobyl komplett geräumt und ist es bis heute geblieben. Über 49.000 Menschen lebten einmal hier. Bei den „Pyramiden“ auf Spitzbergen handelt es sich um eine aufgegebene Bergarbeitersiedlung mit ehemals über tausend Einwohnern. Und Verosia (Veroscha), eine Geisterstadt in Nordzypern, ist auch nicht zu verachten. Die touristische Anlage bestand mal aus 45 Hotels, 21 Banken, 24 Theatern und Kinos, 60 Appartement-Hotels und 3.000 Ladengeschäften. Nach der während des Zypernkonfliktes erfolgten Besetzung durch das türkische Militär, das das Areal erst mal zum Sperrbezirk erklärte, verfällt dieses zusehends. Hier hätte man durchaus auch den neuen „Blade Runner“ drehen können. Die Natur holt sich jetzt zurück, was der Mensch ihr einst genommen hatte.
Faszination im Verborgenen
Aber warum in die Ferne schweifen. Hierzulande, oder halt kurz hinter der Grenze zu unseren europäischen Nachbarn, gibt es solche faszinierenden (aber nur spärlich frequentierten) Orte zur Genüge. Man muss natürlich schon genau danach suchen. Das Maginot-Werk „A8“ ist ein solcher. Das französische Militär, das nach wie vor Eigentümer der Liegenschaft ist, hat das Interesse daran verloren und wäre froh, sie verkaufen zu können. Sporadisch patrouilliert die Gendarmerie noch vor Ort, um ungebetene Eindringlinge abzuschrecken oder diesen auf die Finger zu klopfen. Doch die Kontrollen sind lasch.
Nichts mitnehmen, nichts verändern, nichts zerstören
Zu holen oder beschädigen gibt es hier sowieso längst nichts mehr. Nach Außerdienststellung der Einrichtung kamen die Schrotträuber und hinterließen eine Spur der Verwüstung. Sämtliche Kabel wurden aus den Wänden gerissen und auf den ehemaligen Bettgestellen verbrannt, um an das Kupfer zu gelangen. Von diesen Umtrieben zeugen die rußgeschwärzten Wände in nahezu allen Bereichen. Aber auch Besucher, die nicht auf Diebstahl aus waren, haben ihre Visitenkarten hinterlassen, in Gestalt der offenbar unvermeidbaren Graffiti-Schmierereien. Ein eklatanter Verstoß gegen die ungeschriebenen Spielregeln der verschwiegenen Lost-Places-Gemeinde. Die da lauten: nichts mitnehmen, nichts verändern, nichts zerstören! Und nicht von ungefähr treten Mitglieder dieser Community die Koordinaten ihrer Jagdreviere nicht breit oder hüllen sich, wie in diesem Fall, in Schweigen, was die entsprechenden Zugänge und Einstiege anbelangt.
Viele Bereiche sind noch intakt
Die Rowdies und Diebe haben sich aber offenbar nur in die leichter zugänglichen Regionen vorgewagt, jene Bereiche, die bis zuletzt genutzt worden waren. Dazu zählen das Munitionslager und der Mannschaftseingang. Dort befinden sich auch die großen Diesel-Motoren, die einst die Notstromaggregate antrieben. Je tiefer man jedoch vorstößt, desto intakter zeigt sich die Anlage. Die Bausubstanz hat die Zeiten fast unbeschadet überdauert. Und daran dürften auch die nächsten Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, viel dran ändern. Das sieht natürlich bei den morschen hölzernen Zwischenböden ganz anders aus. Sie zu betreten ist lebensgefährlich.
Der Dunkelheit ihre Geheimnisse entreißen
Trotzdem ist die einstige Größe der imposanten Anlage noch überall erfahr- und erlebbar. Vorausgesetzt, die Besucher verfügen über ausreichend eigene Lichtpower und Energiereserven. Denn: Es ist zappenduster da unten. Schon im Interesse der eigenen Sicherheit ist es ratsam, genügend Akkus mitzuführen. Ohne wegweisende Ausleuchtung findet niemand mehr zurück an die Oberfläche. Von der bildlichen Ausbeute ganz zu schwiegen. Höhlen- und Bunkerfotografie ist eine Wissenschaft für sich. Die Voraussetzungen, in solchen Unterwelten passable oder gar künstlerisch anspruchsvolle Fotos hinzukriegen, sind alles andere als ideal. Um der Dunkelheit ihre Geheimnisse zu entreißen, bedarf es mehr als des trüben Scheins einer Taschenlampe oder eines Handscheinwerfers. Bewährt hat sich bei solchen Expeditionen der Einsatz von Petromax-Starklichtleuchten, in ihrer Leistung mit einer 350 W Halogenlampe vergleichbar. In Kombination mit tageslichtwarmen und lichtstarken LED’s lassen sich mit ihrer Hilfe ansprechende Ergebnisse und tolle Effekte generieren. Dennoch scheint ihre Zeit langsam vorbei, weil sie nach Ansicht von Praktikern wie den Novaks zu störungsanfällig sind und die Wartung viel zu aufwändig ist.
Zehn lange Stunden schwer bepackt durch das Labyrinth
Zehn Stunden lang kämpfte sich das Fotografen-Trio aus dem Hessischen unter Tage durch dieses Labyrinth. Die nur durch das Echo der eigenen Schritte unterbrochene Stille ist unheimlich. Die schemenhaften, selbst erzeugten Schatten an den Wänden sind es auch. Und dann das Geräusch entgegen kommender Stiefel. Freund oder Feind? Auf die Idee, das geheimnisvolle Hadesreich zu erkunden, waren an diesem Tag noch andere gekommen. Vier weiteren Gruppen sollten die Hessen im Verlauf ihrer zehnstündigen Exkursion begegnen. Kurzer Small-Talk, Austausch von Höflichkeiten und weiter ging’s. Irgendwann wird das Gepäck zentnerschwer. 15 Kilogramm Ausrüstung schleppte jeder Einzelne durch die Gegend. Die unterirdisch zurückgelegte Strecke von ca. sechs Kilometern erscheint da im Verlauf der Tour zehnmal so lang. Aber was tut man nicht alles für einige außergewöhnliche Motive….