Von Jürgen Heimann
Dass der Stoff, aus dem die dramatischen Emotionen erwachsen, auch als Musical-Adaption funktioniert, hatten die Thunerseespiele bereits 2013 eindrucksvoll bewiesen. Mit einer hochkarätigen Cast: Pia Douwes, Uwe Kröger, Ethan Freeman, Norbert Lamla, Dean Welterlen und anderen Speerspitzen der klangvollen Bewegung. Aber die Tecklenburger Freilichtspiele setzen in dieser Saison noch einen drauf. Die alte Dame, die der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrematt Mitte der 50-er Jahre ersonnen und zum Leben erweckt hatte, ist aktuell im Münsterland zu Besuch – auf Deutschlands größter Musical-Freilichtbühne. Zum ersten Mal hierzulande überhaupt.
Da mischt die nachtragende Lady eine ganze Kleinstadt auf. Güllen heißt die, also die Kleinstadt, nicht die Dame. Und das nicht von ungefähr. Die Namensähnlichkeit mit „Gülle“ ist beabsichtigt, weil das Kaff ein Sumpf der Unmenschlichkeit ist und deren Einwohner ganz tief im Morast der Unmoral waten. Die stinkreiche Rächerin, der man hier Jahrzehnte zuvor so übel mitgespielt hatte, trägt den Namen Claire Zachanassian. Früher, als sie hier noch in der Gülle spielte, hieß sie Klara Wäscher. „Zachanassian“ ist eine Anspielung Dürrematts auf die Superreichen seiner Zeit: Zaharoff, Onassis und Gulbenkian. Aber das durch Heirat in der Ferne zu immensem Vermögen gekommene Ex-Klärchen hat noch deutlich mehr Kohle als diese auf dem Konto als diese Krösusse es je hatten. Und das mächtige, zänkische Weib nutzt diese Tatsache geschickt und unerbittlich aus.
Zwei Milliarden verspricht sie den Bewohnern des Kaffs für den Fall, dass ein gewisser Alfred Ille, mit dem sie noch ein Hühnchen zu rupfen hat, in den ewigen Jagdgründen landet. Das könnte ein ambitionierter Staatsanwalt jetzt böswillig als Anstiftung zum Mord interpretieren. Muss er aber nicht, meinen die mit Aussicht auf viel, viel Geld auf Kurs gebrachten Kleinstadt-Bürger. Das Kalkül der eisernen, hinkenden Lady geht auf. Die Leute überlegen, zweifeln, wägen Risiken und Chancen ab, sollte dem eigentlich allseits beliebten Betreiber des örtlichen Krämerladens auf unerklärliche Weise etwas zustoßen.
Die saftige Belohnung jedenfalls könnten sie dringend gebrauchen. Ihre Stadt verfällt zusehends, die meistens Einwohner sind arbeitslos, die hier einstmals blühenden Werke und Geschäfte bankrott und geschlossen. Woran die alte Dame, die bei ihrer Ankunft gefeiert wird wie eine Erlöserin, nicht ganz unschuldig ist, was die Menschen hier aber nicht ahnen. Der örtliche Bahnhof ist zur Bedeutungslosigkeit verkommen, so wie die Haltestellen von Dillenburg oder Herborn. Hier hält kaum noch mal ein Zug.
Die Aussicht auf eine milliardenschwere Finanzspritze wirkt wie ein Brandbeschleuniger für die Kreditwirtschaft. Die Leute stürzen sich in Schulden, leisten sich Dinge, von denen sie früher noch nicht einmal zu träumen wagten. Und das Unheil nimmt seinen Lauf. Nicht nur die Honoratioren, angefangen beim Bürgermeister (Wolfgang Pasching) über den Pfarrer (Benjamin Eberling) und den Polizisten (Andreas Goebel) bis hin, aber dann zuletzt mit Einschränkung, zum Lehrer (Alexander Di Capri), zeigen nach und nach ihr wirkliches Gesicht. Sie sind korrupt, arglistig, geldgierig, gewissenlos. Und so kommt es, wie es kommen muss. Der von Thomas Borchert überzeugend brillant und authentisch gespielte Einzelhandelsbetreiber gerät zunehmend in Bedrängnis, ist isoliert und steht mit dem Rücken zur Wand. Er wird vom Gemeinderat verurteilt und vom Mob gelyncht. Der große Zaster fließt. Die alte, stolze Frau, sehr ambitioniert und mit darstellerischer Wucht durch Masha Karell auf die Bühne gebracht, hat ihr Ziel erreicht.
Eben jener „Alfred III“ hatte sie einst als 17-Jährige geschwängert. Aber dann verraten und verleumdet. Die junge Frau wurde als Hure an den Pranger gestellt und schmählich aus der Stadt gejagt; sie verlor das (gemeinsame) Kind und erlitt schwerste Verletzungen, worauf der Krückstock fortan zu ihrem ständigen Begleiter werden sollte. Dass sie ihrem ehemaligen Galan, der des Geldes wegen eine andere ehelichte, das nie verzieh, lässt sich verstehen. 45 Jahre, die zwischen ihrem Rauswurf und der Wiederkunft in der Heimatstadt lagen, hatten ihren unbändigen, eiskalt gepflegten Hass nicht schmelzen lassen.
Es ist aber nicht nur Drama, das hier passiert. So gibt es neben der prickelnden Choreografie (Bart De Clerque) auch viel Schmunzeln und zu Lachen, wofür in erster Linie die drei Bodyguards des Rachenengels, Jochen Schmidtke, Andrew Chadwick und Michael B. Sattler, zuständig sind. Vor allem deren spritzige, slapstik-hafte Revue-Einlage im letzten Drittel des Stücks wäre schon das Eintrittsgeld wert gewesen.
Von den Tecklenburgern unter der Intendanz von Radulf Beuleke ist man seit vielen Jahre imposante, hochprofessionelle und ausgeklügelte Produktionen gewohnt. Für die aktuelle Inszenierung zeichnet Ulrich Wiggers als Regisseur verantwortlich. Der Mann kann u.a. auch bei der Men- und Women-Power aus dem Vollen schöpfen. Wenn die Freilichtspiele ihren gesamten Personalpool mobilisieren, stehen mitunter über 100 Leute im Scheinwerferlicht. Das ist schon ziemlich eindrucksvoll. Und mit Tjaard Kirsch, der wieder das Dirigenten-Stöckchen schwingt, ist man als musikalischem Leiter sowieso stets auf der sicheren Seite. Jens Jank hat das Bühnenbild entworfen, Karin Alberti wieder die edlen die Kostüme.
Premiere war bereits am 22. Juli. Das Stück steht noch an ausgesuchten Terminen bis 9. September auf dem Spielplan.