Von Jürgen Heimann
So, jetzt hab’ ich mich auch getraut. Der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe. Eine Kur. Und es soll auch bei der einen bleiben. Nie wieder! Millionen mit verkrümmten Hufen scharrende Deutsche stehen ihren Ärzten deshalb ja auf den Füßen. Damit die Dotores ihnen eine solche verschreiben bzw. befürworten. Einen Teufel werde ich da tun. Einmal reicht. Lieber werde ich kerngesund und 100 Jahre alt, als noch einmal in einen solchen Wellnessknast zurückzukehren und mich dem strengen Regiment der Wohlbefindlichkeit unter zu ordnen.
Der Name, also Kur, leitet sich aus dem lateinischen Wort “cura” ab, was so viel wie Sorge, Fürsorge, Pflege, Behandlung oder Heilverfahren bedeutet. Weder verwandt noch verschwägert mit “curare”, dem Pfeilgift der südamerikanischen Indios. Könnte aber mitunter auf dasselbe hinauslaufen. Kur hat aber andererseits auch nix mit der Kurischen Nehrung zu tun.
Umgangssprachlich reden wir mitunter auch von einer “Reha”, der Abkürzung für Rehabilitationsmaßnahme. Deren verschärfte Variante ist die Anschlussheilbehandlung nach einer OP. Per Definition soll das Ganze der Stärkung einer (geschwächten) Gesundheit oder der Unterstützung der Genesung bei Krankheiten und Leiden verschiedener Art dienen. Und daran arbeiten alle Beteiligten verbissen, Patienten, Ärzte und Therapeuten. Und es ist ein Milliardenmarkt.
Es gibt tausende von entsprechenden Einrichtungen, Sanatorien, Kliniken und Hotels unterschiedlichster Träger, die sich auf diesem Sektor des Gesundheitswesens tummeln und vom großen Kuchen naschen. Legionen von Mitarbeitern finden in dieser von allem konjunkturellen Auf und Ab völlig unabhängigen Branche Lohn und Brot. Da findet jeder Topf sein Deckelchen. Die Masse der Konsumenten ist bei der Finanzierung auf die Wohlgefälligkeit ihres Rentenversicherers oder Krankenversicherers angewiesen, was bedeutet, dass der ein oder andere Nutznießer bei dem ihm zuteilwerdenden Spaß schon einige Abstriche machen muss. Sei es, was die Ausgestaltung der Maßnahme angeht, sei es bei der Wahl der Örtlichkeit.
Aber wie dem auch sei: Vier Wochen in einer dieser mondänen Heilanstalten, umgeben von Kranken, Darbenden und ihr Leiden mit großer Geduld Tragenden, und man(n) ist reif für die Klapse. Die Dominikanische Republik oder die Seychellen wären zwar schön gewesen, aber die Deutsche Rentenversicherung mochte nur einen Klinikaufenthalt im oberhessischen Outback spendieren. Immerhin gab’s da Handyempfang und sogar, wenn auch langsames, gebührenpflichtiges Internet, was nicht an allen zur Auswahl stehenden Standorten selbstverständlich war und ist. Und das Kaff lag heimatnah. So konnte man, wenn der Kur- und Heilbetrieb freitagmittags schlagartig verebbte, schnell nach Hause brettern – und das wirkliche Leben genießen. Außerdem: Bei Muttern schmeckt’s doch immer noch am besten.
Apropos Essen: Meinem bescheiden entwickelten gustatorischen Wahrnehmungsempfinden zufolge blieb es sich in finaler sättigender Konsequenz egal, ob man in der Klinik-Kantine Fisch, Schnitzel oder Linseneintopf orderte. Der Geschmack war stets der gleiche. Auch deshalb, weil die Jungs und Mädels in der Küche auf Geheiß von oben an Gewürzen sparten, insbesondere an Salz. Weil zu viel davon halt ungesund ist. Dennoch servierte die dralle Philippinin mit der kecken Zahnlücke oben links und dem feschen weißen Käppi an Ausgabe-Schalter 1 den nicht gerade üppig beladenen Teller, als befände sich darauf die praktische Examensarbeit von Paul Bocuse.
Extase-Tanz zum Sound der Wildecker Teichrosen
Den Kummer über die vorenthaltenen Gaumenfreuden konnte man/frau sich abends dann in der von einem externen Pächter betriebenen Cafeteria mit Hilfe mehrerer Gläser Hefeweizen erträglich trinken. Allerdings kostete der Kelch 4,80 Euronen. Als nicht amtierender Lottokönig war es schwierig und budgetsprengend, das zum Überleben nötige Level zu erreichen – und dauerhaft zu halten. Aber die Dröhnung brauchte man auch, um die wöchentlichen bunten Abende durchstehen zu können. Ein taffer Alleinunterhalter kämpfte sich im Foyer der Wellness-Oase durch die aktuellen Charts von vorgestern und servierte die neuesten Hits von Semino Rosé und den Wildecker Teichrosen. Da kam Freude auf. Und Stimmung!
Das Tier in der sportiven Endsechzigerin war geweckt. Behende und grazil schwebte sie, die ungekrönte Königin des Kayalstiftes, ihren imaginären Tanzpartner bis zur Besinnungslosigkeit würgend über die Parkettfliesen. Der sterbende Schwan hätte sich mit Grausen in der Bratröhre umgedreht. Auch wäre es mit Brille nicht passiert, die filigranen Zeichnungen an den Waden der Dancing-Queen mit Tattoos zu verwechseln. Es waren Krampfadern. Und sie hatte auch keine Orangenhaut. Dabei handelte es sich, wie sich herausstellte, zweifelsfrei um Schlaglöcher! Und wer einmal eine mit Leggings gewandete 250-Pfund-Elfe mit den Proportionen einer aus Recyclingmaterial gefertigten Regentonne zum Takt eines Roland-Kaiser-Songs beim lasziven Hüftschwung beobachtet hat, weiß, was ein ästhetischer Super-Gau ist.
Sportiver Chic und pinkfarbene Ganzkörperkomdome
Das semi-uniforme Outfit der Patientenfraktion ist von der Heimleitung teils vorgegeben, in seiner individuellen Ausgestaltung aber frei wählbar. Somit kann kein Zweifel daran aufkommen, dass es hier zwar (auch) um Körperertüchtigung und -gesundung geht, aber ebenso um das Sehen und Gesehen-werden. Knallbunte, neonfarbene Kreationen namhafter Sportbekleidungshersteller wie Nike, Puma, adidas, Salomon, Garmin, Reebok und Jack Wolfskin dominieren – bei Alt und Jung. Zu Tisch ebenso wie beim Flanieren durch die Flure, beim Small-Talk in der Ruhezone, beim Pulsmessen oder abends an der “Hotelbar”. Der textile Hype hat Methode. Gut, vielen dieser Klamottenträger sieht man an, dass diese Gewandung ungewohnt für sie ist und sie sich nicht so richtig wohl darin fühlen. Aber man muss halt mit dem Strom schwimmen. Ein Spätsenior freilich, der in einem pinken Ganzkörperkondom daherkommt, ist schon gewöhnungsbedürftig, zumal dann, wenn er alle Anwesenden und nicht Anwesenden mit einem saloppen “Hi” begrüßt.
Erlebnisreise durch die Leidenswelt
Der Umgangston ist leger und ungezwungen. Man sagt “Du” zu einander. Schließlich sind wir, weil Leidensgenossen und -genossinnen, alle eine große Familie. In der Kur gilt die Maxime: Nobody ist perfekt. Und hier konnte und wollte das sowieso niemand für sich in Anspruch nehmen. Im Gegenteil. Da hatte jeder sein mehr oder weniger exotisches, ganz individuell-persönliches Wehwehchen, meist ein ganz spezielles, wie es in dieser exponierten Ausprägung bis zu diesem Zeitpunkt in keinem medizinischen Lehrbuch vorgesehen war. Die Bürden waren zwar unterschiedlich verteilt, aber man/frau trug das offensichtliche Aua wie eine Trophäe vor sich her. In der Summe ein repräsentativer Querschnitt durch die Leidenswelt und -fähigkeit der menschlichen Spezies. Und ich war ja Teil des Systems. Etwas Dope zur rechten Zeit half aber über diese Erkenntnis hinweg – wenn auch nur temporär.
Vergaserprobleme und Schuppenflechte im Endstadium
Nicht, dass das irgendjemand interessiert hätte. Aber die persönlichen, bis ins kleinste Detail ausgeschmückten, mit wissenschaftlich-medizinischen Fachbegriffen garnierten Krankengeschichten waren Gesprächsthema Nr. 1. Im Speisesaal, in der Massage-Lounge, in der Kreativwerkstatt oder im Wartebereich zum EKG. Karl-Heinz hatte Schuppenflechte im Endstadium, Elvira-Marie Vergaserprobleme. Thorsten, genetisch vorbelastet, hatte sich nach dem dritten Bandscheibenvorfall zum Sparringspartner für halbseitig gelähmte Sumo-Ringer umschulen lassen – und sich dabei offenbar wieder verhoben. Arbeitsunfall. Elisabeth (“Hallöchen, isch bin die Lissi!”), die mit der aufgetürmten, hochtoupierten Daunenfederfrisur, in der Legionen von Wattvögeln eine sichere Heimstatt gefunden hätten, konnte die regelmäßig anstehenden Fachvorträge über Progressive Muskelentspannung oder Kolorektale Karzinome aus dem Effeff rezitieren. Akzentfrei, ohne zu stocken, aber dafür mit feuchter Aussprache. Und der leicht adipöse Lothar, der immer einen schwergewichtigen Witz auf Lager hatte, verfügt zu Hause bestimmt über eine eigene Postleitzahl und geht zum Duschen in die Autowaschanlage.
Das therapeutische Angebot war vielseitig, um nicht zu sagen erschlagend. Wobei Krankengymnastik, Ergotherapie, Wirbelsäulengymnastik im Bewegungsbad und Bindegewebsmassagen noch zu den harmloseren Dingen zählten. Zwischen Diätberatung und Manueller Lymphdrainage mit Kompressionstherapie ging es regelmäßig in die hier als MTT (=Medizinische Trainingstherapie) getarnte Muckibude. Da konnte/musste man sich in Schweiß treibenden Exzessen laut nach Luft japsend den Frust von der Seele stemmen und ziehen. Sinn und Zweck des Ganzen war es, die morschen Knochen und wabbeligen Bänder zurück auf olympisches Niveau zu bringen.
Mit dem mobilen Sauerstoffgerät zum Zigarettenautomat
Der Gebrauch von Rollatoren war nur in Ausnahmefällen gestattet. Beispielsweise, um das mobile, hinderliche Sauerstoffgerät auf dem Weg zum nächsten Zigarettenautomaten transportieren zu können. Und der ein oder andere im nahegelegenen Lidl erstandene Sixpack passte ja auch noch ins Gepäckfach. Man sollte sich dabei nur nicht von Oberschwester Olga erwischen lassen. Die war vor ihrer durch die Arbeitsagentur geförderten Umschulung in ihrem früheren Leben mal Brigadeführerin in einer sowjetischen Kolchose gewesen. Raue Schale, harter Kern. Womit sich einige der Ärzte vor ihrer Klinikkarriere den Lebensunterhalt verdient hatten, weiß ich hingegen nicht. Kann es nur vermuten.
Zwischen Phlegmatikern und ADHS-Athleten
Die resolute Zeremonienmeisterin in der stundenweise besetzten Pflegedienstzentrale hatte für jeden sorgenfaltigen Bedenkenträger ein aufmunterndes Lächeln übrig. Überhaupt war das Personal in der Summe motiviert und engagiert, amortisiert, sozialisiert, assimiliert und couragiert; die Darbenden auf der anderen Seite des Zauns affektiert, blasiert, desillusioniert, alkoholisiert, demoralisiert, diskreditiert und angeschmiert. Sie ließen sich, was ihre individuelle charakterliche Disponierung anging, nicht lumpen. Da offenbarte sich das gesamte Typenspektrum der Gattung Mensch. Willkommen im Circus Homo sapiens! Phlegmatiker mischten sich unauffällig unter hyperaktive ADHS-Athleten, deren ungebremster Bewegungsdrang keine Grenzen kannte. Wie der des kahlköpfigen, kraftstrotzenden Willi, der selbst den Gang zur Toilette, bei der er seine ungezügelte Kraft nur mühsam im Zaum halten konnte, noch zackig und federnden Schrittes zelebrierte. Und das lag nicht unbedingt daran, dass dieses Energiebündel so dringend aufs Töpfchen musste, dort aber selbst beim Stehpinkeln vermutlich noch Kniebeugen machen. Das sind die Leute, die selbst bei minus 15 Grad im kurzärmeligen T-Shirt auf der Terrasse dösen und beim Iron-Man den Pausenclown geben.
Wo viel Licht, da auch viel (Kur-)Schatten
Kurt, der abgebrühte AHB-Profi, kannte alle Tricks und Schliche, die das Leben im Reha-Dschungel erst erträglich machen. Was man von Sabine, einer kompakten, blondierten (Spät-Herbst)-Zeitlosen, die unablässig auf der „Ich-bin-nicht-abgeneigt-Frequenz“ sendete, kaum behaupten konnte. Sie sah aus wie 70, machte auf 60, war aber erst 50. Der Türschlüssel, dessen Nummer zugleich ihre telefonische Rund-um-die-Uhr-Bereitschaft signalisierte, lag stets gut sichtbar neben dem Tischbesteck. Hier galt: Wo viel Licht, da auch viel (Kur-)Schatten. Und die werden bei tiefer stehender Sonne ja immer länger.
Herr, lass’ Abend werden! Ein solcher, bar jedweder äußerer Reize, allein verbracht mit sich selbst und der Einsamkeit im nach gewachstem Linoleum duftenden Einzelzimmer von der Größe eines getunten Hamsterkäfigs, kann durchaus erquickend sein. Zumal jedes Zimmer mit einem TV-Gerät ausgestattet war. Und das Programm war genauso flach wie der Flachbildschirm. Gut, zu empfangen waren nur die beiden großen Öffentlich-Rechtlichen. Auch der regionale Bauernfunk flimmerte noch ziemlich störungsfrei über die Mattscheibe. Dafür gab es aber einen eigenen Hauskanal, der stets drei Tage im Voraus darüber informierte, was es in der Kantine zu essen geben würde. Das aber wie gehabt. Nämlich Schnitzel ohne Gräten, dafür aber sehnig und geschmacksneutral. Es hätte auch als Fischfilet durchgehen können. Aber auch der vegetarische Gemüseauflauf ohne Salzbeigabe wäre eine Überlegung wert gewesen. Die Vorfreude ist doch immer die schönste Freude. Da läuft einem das Wasser in den tränenschimmernden Augen zusammen.
Kneipen-Rallyes und mundgetöpferte Topflappen
Aber man darf sich von solchen Nebensächlichkeiten die Lebenslust nicht vermiesen lassen. Zumal es ansonsten an lukrativen Freizeitangeboten nicht mangelte. Besonders beliebt, die von einem coolen Nachtwächter geführte Abend-Tour durch die illuminierte Altstadt des nahegelegenen Städtchens. Eine solche stand jede Woche an, und fiel jede Woche aus- mangels entsprechender Resonanz. Vielleicht hätte man es stattdessen mal mit einer Kneipenrallye versuchen sollen. Als Alternative bot sich ein 20-minütiger Abenteuerspaziergang mit dem Ergotherapeuten in den Sonnenuntergang an, Brotzeit mit Raucherpause inklusive. Aber da war ja auch noch die hauseigene Kreativwerkstatt. Dort konnte man unter Inges kompetenter Anleitung einarmiges Batiken in der Dreiviertel-Literklasse erlernen. Oder es mal mit mundgetöpferten Topflappen versuchen, was sich aber als gar nicht so einfach erwies. Selbige mit verbundenen Augen zu häkeln, erforderte schon einiges an Geschick und Übung. Und die Kursleiterin war schon ziemlich penibel.
Vier Wochen in einem solchen Rekonvaleszenz-Kabinett können ganz schön lang werden. Verdammt lang. Da kriechen die Minuten auf blutenden Füßen daher, wie es eine unbekannte Freizeitpoetin einmal so treffend formuliert hat. Aber jetzt bin ich kuriert!