Von Jürgen Heimann
Das Orakel von Delphi hat ja leider schon geschlossen. Und die verschlagen dreinblickende runzelige Alte im runden, dämmerigen Zelt hinter dem Autoscooter-Parcours auf dem Eibelshäuser Rummeplatz macht trotz der dicken Warze auf der Nase auch keinenn kompetenten Eindruck. Runen sind gerade aus, bei den Tarot-Karten fehlt bezeichnender Weise der Narr. Auch Nostradamus scheint nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Außerdem gefällt mir der Zottelbart des alten Durch- und Weitblickers nicht besonders. In dem Kinngestrüpp nisten garantiert Legionen von Milben. Da aber auch der Chirologe unseres Vertrauens gerade am Ballermann eine persönliche Auszeit nimmt – er ist sowieso Analphabet und wäre schon allein deshalb nicht in der Lage, aus der Hand zu lesen – ist guter Rat teuer. Wer sagt mir, wo’s lang geht?
Uschis Orakel im Internet eher mal nicht. Das ist mal sicher. Da kriegt man nur blöde Antworten. Auf die Frage, ob ich bei Olivia Munn, Kate Perry oder Rosie Huntington-Whiteley möglicherweise Chancen hätte, fiel der blöden Kuh auch nichts Besseres als ein schlichtes „Nein“ ein. Und da reden Hinz und Kunz heute von künstlicher Intelligenz. Dass bei fortschreitender Dämmerung mit Dunkelheit zu rechnen ist, darauf hätte man auch selbst kommen können.
Aufbruchsstimmung unter Autoknackern
Aber es geht ja auch gar nicht um solch profane Fragen, beispielsweise dergestalt, ob kleine Leute nach einer Steuererhöhung noch an ihr Lenkrad kommen, oder ob bei Autoknackern generell eine bestimmte Aufbruchsstimmung herrscht. Nein, es geht um Existentielles, die großen Fragen des Lebens und des Seins, meine Zukunft und die der gesamten Menschheit. Darum, ob ich ein gutes oder schlechtes Karma oder Rama habe. Gut zu wissen wäre auf jeden Fall, ob und wie sich eben diese(s) Tamara zu den eigenen Gunsten beeinflussen, gegebenenfalls ändern und in einer individuell genehmen Weise zurechtbiegen ließe. Da ist mit klug-scheißerischen Sprüchen wie „Das reine Sein und das reine Nichts sind dasselbe“ wenig anzufangen. Den Klopper hat der Pendelheini aus Castrop-Rauxel garantiert irgendwo bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel geklaut. Zumindest glaube ich, diesen Satz schon mal auf irgendeinem Beipackzettel gelesen zu haben
Die Zukunft steht in der Haribo-Tüte geschrieben
Um zu ermessen, wo der Bofrost-Mann die Socken hat, bedarf es natürlich erst mal einer Standortbestimmung. Wer bin ich, was trinke ich, wie viel, warum und wo sonst noch außerdem? Selbst aus Gummibärchen lässt sich die Zukunft deuten und ein Persönlichkeitsprofil erstellen. Die diesem aufregenden System zu Grunde liegende Methodik wurde übrigens von Haribo entwickelt. Sie basiert auf der Erkenntnis: „Bärchen lügen nicht“. Nachzulesen ist das in Dietmar Bittrichs bahnbrechendem, grenzwissenschaftlichen Jahrhundertwerk „Das kleine Gummibärchen Orakel“. Gibt’s unter anderem bei Amazon. Für schlappe fünf Euro.
Das Ganze funktioniert ganz einfach. Man/frau braucht lediglich fünf Leckerlies aus der Lidl-Vorrats-Tüte zu ziehen. Sollte das aber mit geschlossenen Augen tun. Die 1922 von dem Bonner Forscher Hans Riegel erfundenen Frucht-Präser, die es heuer sogar in koscher und halāl gibt, sind ja unterschiedlich gefärbt. Es gibt sie in Rot, Gelb, Weiß, Grün und Orange. Somit sind in der Fünfer-Konstellation 126 verschiedene Farbkombinationen möglich: drei rote, ein gelber und ein grünes Gummi beispielsweise, drei weiße zwei grüne – oder halt ein gelbes, drei in Orange und eins in Cyan. Wobei sich letzteres aber noch nicht so richtig hat durchsetzen können
Prophetisch begabte Gummis gehen online
Jede dieser Fünfer-Mischungen hat eine ganz besondere Bedeutung, steht für eine bestimmte schicksalhafte Konditionierung und Charaktereigenschaft. Welche das sind, kann der Leser den leicht verständlichen Erklärungstabellen im Anhang des Buches entnehmen. Und darf die im Wesentlichen aus Zucker, Glukosesirup, Wasser und Gelatine bestehenden Bärchen anschließend guten Gewissens einwerfen. Wo persönlich und schicksalsmäßig der Hammer hängt (oder auch nicht), lässt sich inzwischen auch online abfragen. Die ganz individuell zugeschnittenen Weissagungen der prophetisch begabten Gummis offenbaren sich hier: Selbst in Liebesfragen sind sie auf der Höhe der Zeit – und wissen immer einen Ausweg.
Wir drehen am (Tiroler Zahlen-)Rad
Dieses System ist eine aus dem Großen Tiroler Zahlenrad abgeleitete Weiterentwicklung. Bei dieser esoterischen Pirelli-Version ist das persönliche Geburts-Datum das Maß aller, oder zumindest der meisten Dinge. Und das funktioniert so: Angenommen, ich hätte am 12. Juli 1954 meinen von der Hebamme sofort und konsequent mit einem kräftigen Klaps geahndeten ersten Schrei auf diesem Scheiß-Planeten von mir gegeben. (Tatsächlich bin ich ja deutlich jünger und frischer). Aber in diesem exemplarischen Fall gehören dann die Zahlen 1,2,7,5 und 4 zu meiner persönlichen Signatur, die dann nur noch in besagter norditalienischen Winter- (wahlweise Sommer-)Felge platziert werden müssen. Daselbst ergibt das als aktuelle Positionsbestimmung „Norden/Süden/Westen/Mitte“. Details wie Längen- und Breitengrade können wir getrost vernachlässigen. Aus dieser groben geografischen Standortbestimmung vermögen Eingeweihte, oder auch wir selbst, dann verbindliche Rückschlüsse zu ziehen – auf uns.
Zornige Wutausbrüche und die Klarsicht des Ostens
Kommen die 2 und/oder die 7 im Geburtsdatum vor, zeugt das von Feuer und Leidenschaft des Südens. Die Betroffenen wissen sofort: Aha! Sie sind sehr unabhängig, begeisterungsfähig und charismatisch. Das muss denen ja auch mal gesagt werden. Und deren Mitmenschen auch. Allerdings neigen diese Individuen gelegentlich auch zu Übertreibungen, Geiz und Hysterie. Eine 3 und eine 8 repräsentieren die mitfühlende Klarsicht des Ostens. Wir blättern und schauen nach: Naturverbunden, musikalisch und kreativ. Allerdings, kein Licht ohne Schatten, von denen kleine Geister bei tiefstehender Sonne besonders große werfen. Da wäre nämlich auch die Neigung, sich gerne in fremde Angelegenheiten einzumischen, andere zu manipulieren und nicht ganz frei von gelegentlichen zornigen Wutausbrüchen zu sein. Das hört sich jetzt weniger gut an. Aber da gibt es auch noch den scharfsinnigen Geist des Westens sowie die naturgeborene, ausstrahlende Kraft der Mitte.
Glücksfaktor Hausnummer: Kein Anschiss unter selbiger
Egal, unsereins muss diese Festlegungen nicht als von Gott gegeben hinnehmen. Clevere Mystiker und Esoteriker der Neuzeit weisen den Weg aus diesem DiIemma. Sie haben „Chop Suey“, diese uralte daoistische Harmonielehre, einfach mit Elementen der Numerologie versöhnt und verschmolzen, was sie dann in die Lage versetzt, allein anhand der Hausnummern verbindliche Aussagen darüber zu treffen, wessen, wenn überhaupt, Geistes Kind diejenigen sind, die dort hausen. (Mein Schwager behauptet zwar, das hieße „Feng-Shui“ und nicht „Chop-Suey“, aber der weiß sowieso immer alles besser). Zeige mir Deinen Personalausweis, und ich sage Dir, wie Du heißt und wo Du wohnst. Ganz schön raffiniert.
Wie dem auch sei, diese neue Disziplin eröffnet ungeahnte Möglichkeiten, dem eigenen vorbestimmten Schicksal ein Schnippchen zu schlagen und diesem eine ganz andere Richtung zu geben. Man braucht ja nur umzuziehen, in eine andere Stadt oder in eine andere Straße. Somit ändern sich die Postleitzahl und die Hausnummer, und das Trumpf-Blatt wird neu gemischt. Welche Auswirkungen und dramatischen Konsequenzen das sonst noch haben kann? Hier weiterlesen: