Von der verkorksten Gebietsreform Mitte der 70-er Jahre, die zusammen zwang, was nicht zusammen passte, hat sich das Willkür-Konstrukt Namens Gemeinde Greifenstein nie erholt. In diesem landschaftlich zwar reizvollen und insgesamt zehn Ortsteile umfassenden Gebilde am östlichen Abhang des Westerwaldes hat das Zusammenleben der Menschen von so unterschiedlicher Mentalität und lokal-geografischer Historie zu keiner Zeit wirklich richtig funktioniert. Eigentlich ist die von zwei ach so unterschiedlichen und eigenwilligen Volksstämmen bewohnte 6.800-Seelen-Kommune im essischen-RHeinland-Pfälzischen Grentzgebietv Hessisch-Rheinland-Pfälzischen Grenzgebiet unregierbar. Von einem Gemeinschaftsgefühl oder einem Miteinander, wie es sich nach zum Teil heftigsten Geburtswehen in anderen Gemeinden zumindest rudimentär entwickelte, kann hier keine Rede sein – und konnte es niemals. Man spricht noch nicht einmal die gleiche Sprache.
Was seit Jahrzehnten mehr oder weniger offensichtlich unter der Oberfläche brodelte, verschafft sich jetzt, einer Eruption gleich, Luft und bricht mit ungestümer Wucht hervor. Es bedurfte gar nicht viel, und der latente Überdruck auf bzw. in dem Kessel ließ selbigen explodieren. Physikalisch gesehen sind die Ursachen für eine derartige Explosion Wassermangel, zu hoher Dampfdruck und mangelhafte Wartung. Und genau das lässt sich allegorisch als Zustandsbeschreibung des Status Quo in der Burggemeindeheranziehen. Für Außenstehende mag der Anlass ein nichtiger sein, für die Handelnden in dieser Tragikomödie ist er jedoch von elementarer, existentieller Bedeutung. Der innere (Schein-)Frieden ist dahin, es herrscht Krieg.
Nord-Süd-Konflikt: Die Mauer in den Köpfen
Dabei geht es vordergründig „nur“ um die Ansiedlung eines Supermarktes (Vollsortimenters) nebst eines zusätzlichen Discounters. Und so etwas ist in völlig unterversorgten Regionen wie dieser per se ja erst einmal eine gute Sache, wenn die nicht einen entscheidenden Haken hätte. Das Projekt soll(te) im nördlichen Gemeindegebiet am von den „Südstaatlern“ ungeliebten Verwaltungssitz in Beilstein verwirklicht werden. Aber das ist, weil die trennende, von Nord nach Süd verlaufende und nie eingerissene Mauer in den Köpfen auch vieler Kommunalpolitiker nach wie vor unüberwindlich ist, feindliches Ausland, zumindest für jene, die momentan in der Gemeindevertretung über die Mehrheit verfügen. Die basiert nun nicht auf politischen Überzeugungen und Fraktionszugehörigkeiten, sondern speist sich allein aus der Herkunft. Es ist eine parteiübergreifende Große Koalition mit lokalpatriotischem Stallgeruch. So einig sind sich SPD und CDU noch nicht mal in Berlin. Nicht erst seit heute kursiert das böse Wort von der „Ulmtal-Connection“, die, so es sie gibt, der kommunalinternen ethnischen Konkurrenz im Norden jetzt mal gezeigt hat, wo der Hammer hängt. Es ist ein neues Scharmützel im immer währenden Kampf zwischen den Preußen aus dem ehemaligen Kreis Wetzlar und den Hessen-Nassauischen Alt-Dillkreislern vom Westerwald. Und der dauert inzwischen schon länger als der 30-jährige Krieg.
Was ist passiert? Die Ulmtal-dominierte Majorität des Gemeindeparlaments hat es in der jüngsten Sitzung des hohen Hauses abgelehnt, die befristete Kaufoption eines Kölner Investors für ein Areal in der Nähe des ehemaligen Beilsteiner Bahnhofs zu verlängern. Diesem Termingeschäft hatte man noch im Februar dieses Jahres mit großer Mehrheit zugestimmt. Aber seitdem ist jede Menge Wasser den Ulmbach hinunter geplätschert. Plötzlich und auf einmal ist das, was einmal als wünschenswert galt, nicht mehr opportun. Wie heiß diese Sache mittlerweile in Greifenstein gekocht wird und welchen Stellenwert sie besitzt, beweist allein die Zahl der Zuhörer, die die jüngste Parlaments-Debatte in der Ulmtalhalle verfolgten. Mehr als 500 dürften es gewesen sein. Vorangegangenen war eine Unterschriftenaktion, in deren Rahmen 970 Bürger ihren „Friedrich-Wilhelm“ zu Papier gebracht hatten, um damit ihrem Wunsch nach verbesserten Einkaufsmöglichkeiten in Beilstein Nachdruck zu verleihen. Die Tinte auf besagtem Papier ist aber offensichtlich nix wert.
Die Gemeindevertretung hatte im Grunde genommen mit ihrer abweisenden Entscheidung nur einen gleichlautenden Beschluss vom November bekräftigt. Gegen diesen hatte Bürgermeister Martin Kröckel (parteilos) Widerspruch eingelegt, weil er dadurch die Interessen der Gemeinde eklatant verletzt sah. Deshalb stand die Angelegenheit erneut zur Diskussion und Abstimmung.
Investor hätte das Zehnfache des Grundstückwertes gezahlt
Erklärtes Ziel besagten Investors, der GEG Grundstücksgesellschaft aus der rheinischen Jecken-Metropole Köln, ist bzw. war es, in Beilstein die Voraussetzungen für die Ansiedlung sowohl eines großen REWE-Vollversorgers, als auch eines ALDI-Discounters zu schaffen. Für das benötigte Grundstück mit einem aktuellen Verkehrswert von 25. 000 Euronen hätte er 240.000 Eurodollars auf den Tisch des Rathauses geblättert, also fast zehnmal so viel. Und es ist ja nicht so, dass die Gemeinde in Geld schwimmt. Nicht nur der Kämmerer wäre über einen solchen Deal „amused“ gewesen. Zusätzliche Gewerbesteuereinnahmen und die Bindung von Kaufkraft im und vor Ort hätten als zusätzliche Pluspunkte auf der Habenseite zu Buche geschlagen. Momentan ist es ja so, dass viele Verbraucher aus Beilstein und den umliegenden Ortschaften eher nach Herborn, Driedorf oder Mengerskirchen tendieren, um sich dort mit den Dingen des täglichen Bedarfs einzudecken.
Taube und Truthahn
Die Konstellation REWE-Markt-ALDi wäre gegenüber dem aktuellen Ist-Zustand eine deutliche Verbesserung gewesen – für die Konsumenten sowieso. Momentan gibt es in ganz Greifenstein nur einen einzigen „richtigen“ funktionierenden und gut frequentierten Supermarkt, und zwar in Holzhausen. Dabei handelt es sich auch um ein privat betriebenes Geschäft, das von REWE mit Produkten beliefert wird. Damit wäre es, hat eine Vertreterin des Handelskonzerns bekräftigt, allerdings vorbei, würde weiter nördlich eine größere Einheit entstehen. Und genau das ist der „Kasus Knacksus“. Für die Ulmtal-Koalition ein absolutes „No go“. Ihren Repräsentanten ist die kleine Taube in der Hand allemal lieber als der Truhahn auf dem Dach des ungeliebten Nachbarn. Kann man aus lokalpatriotischer Sicht zunächst sogar verstehen. Ändert aber nichts daran, das es für ein derart orientiertes Handeln eine treffende Bezeichnung gibt: Kirchturmspolitik. Von welchen weiteren Interessen diese darüber hinaus noch geleitet und beeinflusst ist, wer sich von wem hat vor den Karren spannen lassen, lässt sich vielleicht vermuten, aber nicht klar beweisen und definieren. Möglich zudem auch, dass im Zuge dieser kuriosen Auseinandersetzung nebenbei gleich noch ein paar alte Rechnungen beglichen werden sollten. So etwas nennt man Synergieeffekt.
Es ist ja nicht gesagt, dass der Holzhausener Vollsortimenter zwangsläufig vom Erdboden verschwinden muss. Er könnte sich einem anderen (Marken)Zulieferer anschließen, zumal ein großer neuer Markt (in Beilstein) die Existenzfähigkeit eines Zweiten innerhalb des Gemeindegebiets nicht von vornherein ausschließt. Es gibt andernorts genügend Beispiele dafür, die das untermauern. Das Einzugsgebiet in und um Greifenstein ist groß genug. Allerdings müsste dafür mittelfristig die Infrastruktur am Standort Holzhausen angepasst und ausgebaut werden. Ein für sich isolierter Einkaufsmarkt allein wäre ein Auslaufmodell. Drogerie und/oder Discounter bzw. Tankstelle beispielsweise müssten schon, wenn nicht unmittelbar vor Ort, so doch in bequemer Erreichbarkeit, flankierend und als Ergänzung vorhanden sein. Diese Kombination unterschiedlicher, sich aber ergänzender Segmente ist das Geschäftsmodell mit Zukunft. Dass es funktioniert, kann man überall, ob in Rennerod oder beispielsweise Herborn, beobachten.
Es geht nicht ums Gemeinwohl
Ungeachtet dessen und entgegen aller Gesetzmäßigkeiten des Marktes protegiert man in Greifenstein aber auf Biegen und Brechen eine kleine, auf Dauer nicht überlebensfähige isolierte Kaufeinrichtung, um diese gegen Konkurrenz bzw. nicht gewollte Veränderungen zu schützen. Warum? Geht es hier wirklich und ausschließlich nur darum, einen Ortsteil gegenüber einem andern besser zu positionieren und zu stärken? Oder steckt mehr dahinter? Privatinteressen vielleicht? Ein Bruder der Betreiberin des Holzhausener Marktes ist übrigens Mitglied des Gemeindeparlamentes. Aber das muss nichts bedeuten… Dieser Protektionismus hat mit zukunftsorientiertem, weitsichtigem Handeln und freier Marktwirtschaft wenig bis gar nichts gemein. Der Vorwurf, dass die Verantwortlichen dabei nicht unbedingt das Gemeinwohl im Auge haben, steht im Raum und ist bislang nicht entkräftet.
Entwicklungschance vertan
Neidisch blicken viele Greifensteiner auf die Driedorfer Nachbarn. Die sind ihnen zwar von der Einwohnerzahl (knapp 5.100) deutlich unterlegen, dafür aber in punkto Versorgung wesentlich besser aufgestellt. Dort gibt es einen Edeka-Martkt nebst großem Getränkeshop, einen Penny (Mademühlen) und einen Netto. ALDI würde hier auch gerne noch Fuß fassen, doch hat der Regierungspräsident den Bau einer Albrecht-Filiale abgelehnt. Begründung: In Beilstein wäre ja bereits eine solche geplant. Nach der jüngsten Entscheidung der Gemeindevertretung hat sich das aber erledigt und die RP-Bedenken wären somit hinfällig. Ergo dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis das große „A“ auch irgendwo in Driedorf leuchtet. Die Greifensteiner würden in die Röhre blicken, die Gemeinde hätte sich selbst ein Bein gestellt und eine große Entwicklungschance vertan.
Zwischen Ratio und Emotion
Möglicherweise hat die Parlamentsmehrheit sich selbst, der Kommune als solcher, den Bürgern und letztlich der Holzhausener Marktbetreiberin einen Bärendienst erwiesen. Für letzteren könnte sich die jüngste Entscheidung als Pyrrhussieg erweisen. Denn: Es ist zu beobachten, dass viele Kunden, die bislang hier eingekauft haben, das Geschäft bewusst boykottieren, dieses somit empfindlich schwächen und sich andernorts versorgen. Und zwar aus Verärgerung und Empörung darüber, wie hier Politik gegen ihre Interessen betrieben wird. Dieses Verhalten muss jetzt nicht unbedingt von der Ratio diktiert sein, sondern ist eher emotionaler Wallung geschuldet. In Anbetracht der aufgeheizten Atmosphäre ist es aber durchaus nachvollziehbar.
Und noch etwas ist zu beobachten. Kommunalpolitik, wie sie bislang von der Bevölkerungsmehrheit wenig beachtet worden ist und eigentlich nur so dahinplätscherte, ist plötzlich wieder spannend geworden. Es bedurfte nur eines Reiz- bzw. Identifikationsthemas wie dieses. Die Bürger wollen mitreden und Entscheidungen nicht einfach kritiklos hinnehmen bzw. diese ausschließlich jenen überlassen, die sie, zugegeben, selbst per Kreuz ins Plenum geschickt haben – und von denen sie jetzt bitter enttäuscht sind. Nicht alle Mandatsträger scheinen sich daran zu erinnern, wem sie die Legitimation zu verdanken haben. Und wenn die Kommunalverfassung schon solche Instrumente wie „Volksbegehren“ nicht vorsieht, dann wird man Beschlüsse der Vertretung doch bitteschön hinterfragen und auf ihre Stichhaltigkeit hin abklopfen dürfen. Das impliziert die Forderung nach überfälligen Antworten auf unbequeme Fragen.
Risiken und Chancen
Die Unterschriftenaktion war ein erster Schritt hin zu mehr Basisdemokratie und gemeinschaftlichem gesellschaftlichem und politischem Handeln. Weitere zeichnen sich ab. Bürgerversammlungen, Protestaktionen, Petitionen, eventuell sogar die Gründung einer Bürger- oder Wählerinitiative. Weil es letztendlich nicht sein kann und sein darf, dass die Orts(teil)-Politik den Menschen vorschreibt, wo sie einkaufen dürfen und wo nicht. Darauf läuft es in diesem Fall nämlich hinaus. Die aktuelle Politik spaltet die Gemeinde und die hier lebenden Menschen und sorgt für Klimavergiftung auf lange Zeit. Alte Ressentiments brechen in Folge wieder durch. Das Gemeinwesen Greifenstein, das in all den Jahren, seit es die Großgemeinde gibt, als solches kaum wahrnehmbar war, sieht sich vor seiner bislang größten Zerreißprobe. Diese birgt aber durchaus auch eine Chance.