Von Jürgen Heimann
Dieser “Babysitter” ist unschlagbar! Wer den Film mochte, wird die Inszenierung lieben! Und begeistert sein. Stalker und Attentäter haben im “Blauen Müllsack” in Köln bis auf weiteres ganz schlechte Karten. Weil Frank Farmer ein ganz ausgeschlafenes Kerlchen ist und, wenn’s denn sein muss, schneller schießt als sein Schatten. Das hat dieser heimliche James Bond mit Lucky Luke gemeinsam. –Als “Bodyguard” tritt er an, seine Klientin, die, logisch, in Folge zu seiner Geliebten mutiert, vor dem Bösen in der Welt zu schützen. Mit der gleichnamigen Produktion katapultiert sich die rheinische Jeckenstadt nun zurück in die erste Liga der deutschen Musicalstandorte. Der glanzvollen, am 21. November erfolgten Deutschlandpremiere vorgeschaltet waren diverse Previews. Die Reaktionen des euphorisierten Publikums schienen dabei alle sowieso schon hochgeschraubten Erwartungen zu rechtfertigen und zu toppen. Aber spätestens seit dem offiziellen Start der Spielserie dürfte klar sein: Das Stück schlägt wie eine Bombe ein. Auch wenn die Verwendung dieses Begriffs angesichts der prekären Terrorlage derzeit vielleicht etwas unpassend zu sein mag.
Bis Ende 2016, so die Planungen, soll diese klanggewaltige Reminiszenz an die unvergessene, 2012 leider schon verstorbene Whitney Houston am Rheinufer zelebriert werden. Also Zeit und Gelegenheit genug, sich hier ihrer nachhaltig zu erinnern. Man/frau gönnt sich ja sonst nix! 16 Hits der begnadeten Soul- und Pop-Diva tragen das spannende Geschehen und treiben es voran. Ein Pop-Konzert? Eine Tribute-Show? Ein Compilation-Musical? Ja und Nein. Von allem irgendwie etwas.
Zwischen Patricia, Rachel und Whitney
Der Weltstar selbst hatte sich seinerzeit, 1992 war’s, in dem gleichnamigen Blockbuster unter dem Pseudonym “Rachel Marron” quasi selbst verkörpert – an der Seite des späteren “Waterworld”-Freischwimmers Kevin Costner. Sechs Millionen Kinozuschauer fieberten allein in Deutschland mit den beiden mit. Mit einem Einspielergebnis von knapp 411 Millionen Dollar war das der Film mit den zweithöchsten Einnahmen des Jahres. Die Storyline dürfte insofern und allemal bekannt sein, auch den später Geborenen. Also an dieser Stelle geschenkt.
Der Grammy-prämierte Soundtrack wanderte weltweit mehr als 44 Millionen Mal über die Ladentheken, während der Titelsong “I Will Always Love You” zu einem der größten Hits aller Zeiten avancierte. In Kölle heißen die Protagonisten zwar auch “Rachel” und “Frank”, doch dahinter verbergen sich natürlich andere Personalien. Und auch wenn es vielleicht zunächst so aussah: Für Whitney-Fan Patricia Meeden war es eben keine unlösbare Aufgabe, in die großen Fußstapfen ihres populären Vorbildes zu treten. Was diese bildhübsche Powerfrau mit der Granaten-Stimme hier an überzeugender und temperamentvoller Performance bietet, lässt keine Wünsche offen. Dabei versucht sie erst gar nicht, die bis heute unerreichte Vorlage 1:1 zu kopieren. Und Meedens Bühnen-Schwester „Nicki“ (Tertia Botha) ist auch nicht von schlechten Eltern. Da stellt sich nicht nur einmal die Frage, wer von den beiden Ladies mehr Gold und PS in der Kehle hat. Und spätestens bei dem emotionalen als Duett angelegten „Run to You“ wird offensichtlich, dass man es hier mit zwei einander ebenbürtigen Vokalartistinnen zu tun hat. Dieses „Run to You“, das ja ursprünglich einmal als Trennungslied konzipiert war, aber dann für den Film völlig umgearbeitet wurde, hatte `92 eine Oskar-Nominierung erhalten – in der Kategorie „Best Original Song“.
Und von diesen „Best“-Songs reiht sich einer an den anderen. Das fängt bei „Million Dollar Bill“, der letzten Single-Veröffentlichung Houstons vor ihrem Tod, an und hört bei „I’m Every Woman“ noch lange nicht auf. Dazwischen immer wieder so unsterbliche Ohrwürmer und Gassenhauer wie „I Will Always Love You“, das emotionale Herzstück der Show, „I Wanna Dance With Somebody“ oder eben dieses gefühlsbetonte sich in die Gehörmuscheln grabende „One Moment in Time“. Ein grandioser, zeitloser Hit über den unerschütterlichen Glauben an sich selbst. Whitney Houston hatte ihn 1988 während der Eröffnungszeremonie der Olympischen Sommerspiele in Seoul gesungen.
Olympiareife Hits im „Blauen Müllsack“
Noch nie zuvor ist im inzwischen durchaus „ehrwürdig“ zu nennenden Musical-Dome für eine Produktion ein derartiger baulicher und technischer Aufwand betrieben worden. (Noch nie trieb es das Publikum nach der Schluss-Szene aber auch so schnell aus den Sesseln wie in diesem Fall). Allein der Bau des Bühnenbildes soll zweieinhalb Monate in Anspruch genommen haben. Was spätestens in der Blockhausszene im zweiten Akt unübersehbar wird. In diese „Hütte“ inmitten der Wildnis ziehen sich Rachel, ihre Familie und ihr Beschützer zurück. Hier schlägt auch der Attentäter erstmals mit tödlicher Konsequenz zu und ersticht Rachels Schwester. Das zweistöckige Bauwerk ist drehbar und aus verschiedenen Blickwinkeln einsehbar. Es erinnert ein klein wenig an die Chagal’sche Spelunke in „Tanz der Vampire“. Nur, dass der Architekt hier noch ein paar Schippen mehr drauf gepackt hat.
Doch Technik hin, Aufwand her: Ungeachtet aller diesbezüglichen Klotzerei geht das weder zu Lasten der dramaturgischen und inszenatorischen Güte noch ersetzt es sie, wie das leider bei vielen anderen hoch gepriesenen Stücken der Fall ist. Es ist angenehmes, staunend machendes Beiwerk und nur ein Teilaspekt eines runden Ganzen. Die Stringenz der Dramaturgie, der Rhythmus, in dem die Geschichte erzählt wird, die fulminante, dann aber auch wieder schlichte Bildsprache sind es, die „Bodyguard“ so außergewöhnlich und sehenswert machen. Das Stück bietet alles, was ein gutes Premium-Musical ausmacht: Glamour, Spannung, Rasanz, Romantik, Gefühl, Tempo und, ja, das auch, Humor. Und es ist kein bloßes Remake des Westend-Erfolgs, sondern eine für Köln maßgeschneiderte Weiterentwicklung. Die Geschichte wird (zeitgenössisch) weiter ausgemalt, was auch in der sensiblen, mit viel Gespür vorgenommenen Zeichnung der Charaktere seinen Ausdruck findet.
Glamour, Tempo, Spannung und Romantik
Nun gilt es ja per se als immense Herausforderung, ein Bühnenstück zu schaffen, das auf einer berühmten Buch- oder Filmvorlage basiert. Das kann auch in die Hose gehen. Hier ist es das nicht. Was auch einer gewissen Thea Sharrock „anzulasten“ wäre. Mit der Wahl dieser aus dem klassischen Theaterfach stammenden Erfolgs-Regisseurin durften sich die Produzenten von Anfang an auf der sicheren Seite wähnen. Die Frau hat einen tollen Job hingelegt! Und dabei hatte sie sich erst geziert. Aber es waren das Drehbuch (Lawrence Kasdan) und die Dynamik der Songs, die sie letztlich überzeugten und Feuer fangen ließen. Sharrock gelingt es, die sattsam bekannte Story mit ihrem ebenso sattsam bekannten Ausgang so zu erzählen, dass sich der Spannungsbogen in jedem Moment auf seine Sollbruchstelle zu bewegt. Ein kleines bisschen bedient sie sich dabei auch der Ästhetik des Kinos mit seinen schnellen Filmschnitten. Hier kommen sie als fließende, temporeiche Wechsel zwischen großen Auftritten und intimen Augenblicken daher. Intensive Momente wechseln sich mit furios getanzten Ensembleszenen ab.
Die verschiedenen Elemente und Ingredienzien wie Bühnenbild, Choreografie, Licht- und Sounddesign greifen nahtlos ineinander, ergänzen und beflügeln sich. Im Theater gilt die volksweisheitliche Gesetzmäßigkeit, der zufolge viele Köche den Brei verderben, ja nun mal nicht.
Choreografin Karen Bruce hat das Ihrige zum stimmigen Ganzen beigesteuert und ihren Akteuren ein Bewegungsvokabular spendiert, das vom Feinsten und in seiner Umsetzung toll anzusehen ist. Darauf einen “Toast“, oder besser gesagt „Toaster“. So nennt man jene einer Abschussrampe nicht unähnlichen, hochtechnisierten Trampolinkanonen, die die, upps!, wie aus dem Nichts kommenden Tänzer aus dem nicht einsehbaren Unterbühnenbereich ins Blickfeld der Zuschauer auf die Bühne schießen.
Tolle Cast, tolle Band
Reden wir mal über das Orchester, oder besser gesagt „die Band“. Ein kleines Häuflein im Verborgenen operierender Unentwegter, die der Partitur mit unglaublicher Präzision, Authentizität und Klangfülle Leben einhauchen. Jeff Frohner und die Seinen wissen sich da in virtuoser Tradition mit ihren Kollegen von der seinerzeitigen „We-Will-Rock-You“-Combo verbunden. Die hatten an gleicher Stelle auch packender aufgespielt, als es Queen je vergönnt war zu tun. Zweifel, es könnte vielleicht gar nicht live sein, sind jedoch unangebracht. Man weiß es ja besser.
Was die Cast anbelangt, fehlen zunächst einmal die großen, schon aus sich heraus Strahlkraft und Magnetwirkung entfaltenden Szene-Namen, die, halbe Miete, das Publikum in die Häuser treiben, egal, was nun auf dem Spielplan steht. „Bodyguard“ hingegen setzt auf unverbrauchte, junge Künstler und Gesichter, die ebenso jung und unverbraucht sind wie das Stück selbst. Die meisten von ihnen haben sich ihre Meriten zwar bereits in diversen Musical-Produktionen verdient, aber zumeist aus der zweiten Reihe heraus. Hier, am Rheinufer, können und dürfen sie zeigen, was sie drauf haben. Und für einige von ihnen dürfte das, dem erwähnten „Toaster“ gleich, zum Karriere-Sprungbrett werden.
Für die Houston-Inkarnation Patricia Meeden, eine Berlinerin mit kubanisch-dänischen Wurzeln, die weiland als jüngstes Ensemblemitglied bei Cats in Düsseldorf miaut hatte, gilt das allemal. Ihre Sonne geht auf, strahlend. Ja, und wer den bajuwarischen Theater- und TV-Schauspieler Jürgen Fischer bislang noch nicht kannte, obwohl der ja schon Weißblaue Geschichten erzählt, den Dampfnudelblues angestimmt sowie bei den Rosenheim-Cops und Hubert und Staller mitgemischt hat, für den wird es höchste Zeit, das nachzuholen. Er, ein Münchener im (Musical-)Himmel, der ob seiner Physiognomie und Körpersprache Daniel Craig als „007“ durchaus beerben könnte, geht in der Rolle des Leibwächters auf. Ein personalpolitischer Volltreffer! Fischers Spiel ist voller Hingabe, Ausdrucksstärke und Überzeugungskraft, während das Singen wohl weniger zu seinen Stärken zählt. Muss der Mann in dem Stück auch nicht, mit einer Ausnahme. Allein die Szene in der Karaoke-Bar, während der der Ex-Geheimagent als Bestandteil einer Wette die Knarre mit dem Mikro tauscht und sich augenzwinkernd an Frank Wildhorns „Where Do Broken Hearts Go“ versucht, wäre den Eintrittspreis für die Show wert. Aber der Song klingt in Farmers Interpretation immer noch eine Spur ehrlicher und authentischer als in der Cover-Version von „No Direction“…
Und da ist noch Fletcher, der Junior der Diva. Die Kinderrolle teilen sich gleich acht Buben, was bezüglich „Kinderarbeit“ den deutschen Jugendschutzgesetzen geschuldet ist. Bei acht Shows die Woche ist eine gewisse Arbeitsteilung dahingehend unumgänglich und zwingend. Die quietschfidelen Kids haben’s voll drauf und entlocken dem Publikum mit ihrem impulsiven Charme und ihrem zwanglosen Agieren immer wieder offenen Szenenapplaus. Sie haben es verdient!
Musical-Gold in der Goldgasse
Resümee: „Bodyguard“ ist seit langem die sehenswerteste (und auch aufwändigste) Inszenierung auf deutschsprachigen Musicalbühnen. Ein „must have“ nicht nur für ausgewiesene Freunde des Genres. Wer auf einen schönen, unterhaltsamen, kurzweiligen Abend (oder Nachmittag) hofft, ist in der Goldgasse 1 in Köln derzeit allemal an der richtigen Adresse. Aber auch dabei gilt: Einmal ist keinmal. Ein Fest für alle Sinne, das man sich ruhig auch mehrmals „antun“ kann!