Von Jürgen Heimann
Der Mann stammte aus London. Ein gewisser Sergeant Clayton. Vorname nicht bekannt. Da war Hans Juranek. 22 Jahre alt. Aus Wiener-Neustadt. Und Traude Gehe, eine junge Herbornerin. Drei Menschen, die sich nie begegnet sind, deren Schicksale aber auf tragische Weise miteinander verknüpft waren. Drei von vielen hundert Opfern, die der Luftkrieg über dem Dillgebiet gefordert hat. Drei Menschen, die im Feuer-Explosions- und Trümmerhagel einer außer Rand und Band geratenen Luftkriegsmaschinerie ihr Leben ließen. In den unsäglichen Jahren zwischen 1939 und 1945, einer Zeit, als die Götterdämmerung über das Tausendjährige Reich, das letztlich gerade mal zwölf furchtbare Jahre Bestand hatte, längst hereingebrochen war. Auch am Himmel der heimatlichen Region und von diesem herab wurde erbittert, gnaden- und rücksichtslos gekämpft, wobei es, das liegt im unheiligen Wesen der üblen Sache, nicht nur die unmittelbar involvierten Kombattanten traf, sondern überwiegend Unbeteiligte, Unschuldige. Eine informative Dokumentation der Geschehnisse im Eschenburger Regionalmuseum erinnert an dieses dunkle Kapitel.
Tieffliegerbeschuss, Bombenteppiche, dramatische Duelle in, über und unter den Wolken, Abstürze, Zusammenstöße in der Luft, große und kleine Tragödien, Dramen, Blut, Angst, Trauer, Wut, Entsetzen, Ohnmacht, Verzweiflung, Tränen. Diese Zeit ist vorbei. Hat man daraus gelernt? In anderen Teilen unseres Planeten offenbar nicht. Aber vielleicht wird’s ja noch.
Die in einem Seitentrakt der Sparkassenfiliale in der Eibelshausener Marktstraße aufgebaute Präsentation kann nur einige Streiflichter von dem vermitteln, was unsere Eltern und Großeltern damals in Angst und Schrecken versetzte. Es sind ausgesuchte, mit Bedacht gewählte Beispiele aus einer Dekade, in der Flugzeuge als Tötungsmaschinen wahrgenommen wurden und nicht, wie heute in vielfach verklärender Rückschau, als anbetungswürdige Wunderwerke einer ausgeklügelten und der damaligen Zeit weit vorausgeeilten Technik. Wenn wir heute aufwändig restaurierte “Warbirds” in friedlicher Mission am Himmel kreisen sehen, geht dem ein oder anderen das Herz auf. Der Generation vor uns blieb es angesichts ihrer fast oder auch tatsächlich stehen.
So faszinierend und voller ästhetischer Vollkommenheit uns diese Luftfahrzeuge heute auch vorkommen mögen, man sollte nie verdrängen oder vergessen, wofür sie eigentlich konstruiert worden sind. Aber die moderne Ingenieurskunst hat ja inzwischen mächtig dazugelernt und wesentlich effizientere Methoden und Waffenträgersysteme zur Vernichtung menschlichen Lebens entwickelt. Heute sitzt der Operator tausende Kilometer vom Tatort entfernt in seinem unterirdischen, bombensicheren und vollklimatisierten Kabuff und streichelt den Joystick der ferngelenkten Drohne. Das finale Ergebnis ist in seiner tödlichen Präzision das Gleiche, vielleicht noch um ein Vielfaches brutaler und folgenschwerer.
Fließende Grenze zwischen Helden- und Schurkentum
Damals, zwischen 39 und 45, mussten die Krieger der verfeindeten Parteien ihre Haut noch höchst selbst zu Markte tragen. Und sie waren dabei mehr oder weniger davon überzeugt, auf der richtigen Seite zu stehen. Deshalb waren sie, von mitunter zweifelhaften Idealen beseelt, auch sicher, dabei für die richtige und vermeintlich “gute” Sache einzustehen und zu streiten, auch wenn sich die Grenze zwischen Helden- und Schurkentum dabei in der Praxis verwischte. Ja, auch unter Kampf- und Jagdfliegern gab es einen von einer gewissen Ritterlichkeit durchdrungenen Ehrenkodex, zumindest anfänglich des Waffengangs. Aber dieser erodierte, zum Teil auch auf Geheiß von oben, mit fortschreitender Eskalation bei gleichzeitiger Absenkung der Hemmschwelle. Da gewann das von reiner Vernichtungswut beflügelte Auge-um-Auge-Prinzip die Oberhand und mündete in sinnloses Gemetzel. Und dass der siegreiche und edle Aero-Hero dem unterlegenen Gegner einen letzten Ehrengruß entbietet, indem er grüßend die Hand an die Fliegerhaube hebt, bevor der andere in einem Feuerball pulverisiert, ist nicht der schriftstellerischen Phantasie eines Antoine Saint-Exupéry entsprungen. Obwohl uns diese Geste ja auch aus einschlägigen Kriegsfilmen geläufig ist. Andererseits: Wenn unsere waldbodengestützten Jäger dem erlegten Reh einen grünen Zweig ins Maul stopfen, hat das in etwa die gleiche Symbolik, ist aber genauso bescheuert – und zynisch.
Lückenlose Aufarbeitung ohne falsches Pathos
Das große Verdienst Herborner Historiker ist es, diese Ereignisse nahezu lückenlos aufgearbeitet und dokumentiert zu haben. Wertneutral, objektiv, sachlich, nichts beschönigend oder idealisierend. Ohne falsches Pathos bei gleichzeitigem Verzicht auf jegliche, vielleicht der eigenen nationalen Zugehörigkeit verpflichtenden Parteinahme. Die Rechercheure taten das mitunter auch schonungslos deutlich. Der von Rainer Klug (†) geleitete Arbeitskreis “Luftkrieg im Dillgebiet” hat in dieser Hinsicht Pionierarbeit geleistet und in jahrzehntelanger Forschungs- und Feldarbeit so gut wie alle Vor- und Zwischenfälle beleuchtet und untersucht. Zeitzeugen und Überlebende wurden interviewt, Erinnerungen hinterfragt und auf Plausibilität im historischen Kontext hin abgeklopft. Ab und an stellte sich das Geschehen, das der ein oder andere Beobachter von damals noch so genau vor Augen zu haben glaubte, auch ganz anders dar.
Auf diese Leistung stützt sich die Ausstellung in Eschenburg. Dieter Hild und Michael Güdelhöfer standen Kustos Winfried Krüger, als dieser die Schau zusammenstellte, mit Rat und Tat zur Seite und steuerten neben Zeitdokumenten, Fotos, Zeitungsausschnitten, Einsatz- und Zeugenberichten vor allem auch die vielen Exponate bei, durch die die Präsentation ja erst “lebt” und die von den Besuchern staunend betrachtet und begutachtet werden.
Jede verrostete Schraube erzählt eine Geschichte
Triebwerksteile, Bombenzielgeräte, Abwurfvorrichtungen, Bordkameras, Sauerstoffmasken, Funkgeräte, Landeklappen, Cockpit-Instrumente, Radaufhängungen. Es sieht aus wie in einem von Luftwaffe, Air Force und RAF gemeinsam betriebenen historischen Ersatzteillager. Mitunter sind die Teile bis zur Unkenntlichkeit verbogen oder verwittert, aber jeder noch so kleine Splitter, jede Schraube, jeder Metallrahmen hat eine eigene Geschichte. Dahingehend plaudern die Herborner Luftkriegsforscher kenntnisreich aus dem Nähkästchen. Maßstabsgerechte Flugzeugmodelle in den Vitrinen machen anschaulich, mit welchen „Kriegs-Vögeln“ man es damals zu tun hatte.
Der tote Funker auf dem Grund von Heusler’s Weiher
Der eingangs erwähnte vornamenlose Sergeant aus der Themsestadt war übrigens das achte Besatzungsmitglied eines Lancaster-Bombers, der am späten Abend des 31. März 1944 auf dem Weg zur Bombardierung von Nürnberg von deutschen Nachtjägern abgeschossen worden und am Ortstrand von Dillenburg in Heusler’s Weiher gestürzt war. Die Bergungsmannschaften hatten damals fünf tote Besatzungsmitglieder und zwei Überlebende gezählt. Von einem achten Crewangehörigen ahnte niemand etwas. Ein solcher war auch bei Einsätzen mit Maschinen dieses Typs normalerweise nicht vorgesehen. Bei Mr. Clayton handelte es sich um den zweiten Bordfunker, dessen Aufgabe es war, den Funk- und Peilverkehr der deutschen Nachtjäger zu stören. Seine noch auf dem Bordsitz festgeschnallte Leiche wurde erst dreieinhalb Jahre nach dem Absturz durch Zufall entdeckt, als man das Wasser des Sees abließ.
Ja, und Hans Juranek war jener zum Jagdgeschwader 2 (Richthofen) gehörende Focke-Wulf 190-Staffelführer, der am frühen Nachmittag des 19. Februar 1945 bei einem erbitterten Luftkampf über Herborn gegen eine Übermacht feindlicher US-Thunderbolts den Kürzeren gezogen hatte. Der junge Luftwaffen-Leutnant war vermutlich bereits tot, als seine Maschine unweit des heutigen Wildgeheges zerschellte und auseinander brach. An der Aufschlagstelle erinnerte noch ein Findling mit Gedenktafel an das Drama. Ein ebenfalls abgeschossener Kamerad aus derselben Einheit, der 22jährige Obergefreite Herbert Hanck, konnte sich mit dem Fallschirm retten und landete unverletzt bei Uckersdorf. Seine Maschine zerbarst am Südhang des “Otterich”.
Personenzüge und Schafe als kriegswichtige Ziele
Traude Geher schließlich hatte in den frühen Morgenstunden des 29. Januar 1945 sterben müssen, als ein P61-Nachtjäger (Black Widow) um 5.18 Uhr den von Dillenburg kommenden Frühzug am Haltepunkt in Werdorf abpasste und unter Feuer nahm. Neben der Herbornerin fanden 19 weitere Passagiere den Tod. Aber nicht nur zivile Personen- oder Lazarettzüge, sondern auch Schafe galten als kriegswichtige Ziele. Mehrere “Lightning”-Jabos platzierten am 16. März 1945 punktgenau drei Bomben inmitten einer friedlich auf dem Herborner Reuterberg grasenden Herde. Schäfer Nikolaus Stolzenberger wurde dabei tödlich verletzt, 60 seiner Tiere zerfetzt, viele weitere verletzt. Der ebenfalls schwer getroffene Hütehund wachte neben seinem toten Herrn und ließ keinen der herbeigeeilten Helfer an die Leiche heran. Das treue Tier musste von der Polizei erschossen werden, um den Toten bergen zu können.
Fliegermorde und andere Kriegsverbrechen
Auch dieser unglaubliche Vorfall offenbart den ganzen Wahn- und Irrsinn dieser Kriegstage und spiegelt damit die fortschreitende Verrohung der Menschen wider. Was natürlich für beide Seiten galt. Wenn, wie am 21. März 1945 über Eschenburg-Hirzenhain geschehen, drei US-amerikanische Jagdbomberpiloten mit ihren Bordwaffen einen hilflos am Rettungsfallschirm baumelnden deutschen Flugzeugführer massakrieren, ist bzw. war das ein Kriegsverbrechen! Wenn auch eines, das nie gesühnt wurde. Und wenn, wie Anfang Dezember 1944 bei Asslar-Bechlingen passiert, deutsche Polizisten ein überlebendes Besatzungsmitglied eines abgestürzten britischen Bombers hinterrücks abknallen, natürlich “auf der Flucht” oder alternativ “aus Notwehr”, war es das auch. “Fliegermorde” war die gängige Bezeichnung für derartige Schandtaten. Abgestürzte bzw. abgeschossene alliierte Flugzeugcrews wurden auch immer wieder mal von einem entfesselten Mob erst halb zu Tode geprügelt und dann gelyncht, ohne dass die Behörden einschritten. Über 300 solcher Fälle sind dokumentiert. Aber das eine wiegt das andere ja nicht auf, entschuldigt es nicht und macht es auch nicht ungeschehen.
Die Ausstellung ist noch bis zum 19. Februar zu sehen
Der Luftkrieg im heimischen Raum war auch ohne diese Auswüchse schon schlimm und entsetzlich genug. Zeitgeschichtlich Interessierten sei in diesem Zusammenhang das Buch “Der Luftkrieg im Dillgebiet” von Rainer Klug empfohlen, mit dem der Herborner Geschichtsverein bereits 2005 die bis heute umfassendste Dokumentation über die Zeit, als der Tod vom Himmel kam, vorgelegt hatte.
Die mit “Fundstücke als Zeitzeugen” betitelte Ausstellung im Eschenburger Museum ist noch bis zum 19. Februar jeweils sonntags von 14 bis 17 Uhr zu sehen. Der Eintritt ist frei.