Von Jürgen Heimann
Selbst wer in Reli gepennt und den Konfirmationsunterricht regelmäßig geschwänzt hat – das 7. Gebot sollte jedem geläufig sein: Du sollst nicht stehlen! Doch dieses biblische und jenseits religiöser Behaftung nach wie vor Gültigkeit besitzende Postulat geht einer wachsenden Zahl von Leuten, die es mit “Mein” und “Dein” nicht so genau nehmen, am A… vorbei. Das ist aber kein neuzeitliches Phänomen, sondern war schon immer so. Im Jahr 2016 wurden deutschlandweit 378.448 Ladendiebstähle zur Anzeige gebracht. (Nicht in dieser Zahl enthalten sind die Diebstähle, die auf das Konto der eigenen Mitarbeiter gehen). Wobei das aber nur die Spitze des Eisbergs zu sein scheint. Schätzungen zufolge beträgt die Dunkelziffer bei diesen Delikten nämlich satte 98 Prozent. Anders ausgedrückt: Mehr als 37,1 Millionen mal haben dreiste Kunden eingekauft, ohne zu bezahlen. Bei einer Bevölkerungszahl von 82,87 Millionen wäre somit statistisch gesehen fast jeder dritte Bundesbürger ein Dieb.
Aktuell beschert das dem deutschen Handel unterm Strich Verluste in Milliardenhöhe. Etwa fünf Milliarden sollen ihm allein im vergangenen Jahr durch unehrliche Kunden durch die Lappen gegangen sein. Andere Quellen setzten den Schaden niedriger an, mit drei Milliarden. Ehrbare Hausfrauen tun es, gut situierte Beamte, Besserverdiener, die es eigentlich nicht nötig hätten, Jugendliche und, ja, zunehmend auch organisierte Banden. Wobei die Täter immer jünger werden. Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren treten dahingehend viermal so häufig in Erscheinung als andere Altersgruppen.
Fünf-Finger-Rabatt: Die Bremer klauen am häufigsten
Prozentual sind nur 10 Prozent aller Ladendiebe “professionell” aufgestellt. Der größte Teil (75 Prozent) entfällt auf “Normalkunden”, die zunächst gar nicht die Absicht haben, sich selbst einen Fünf-Finger-Rabatt einzuräumen und etwas mitgehen zu lassen. Gelegenheit macht hier wohl Diebe. Und: Stammkunden entwenden vier- bis fünfmal so viel wie Gelegenheitsbesucher. Die Bremer führen da die Charts an. Hier entfallen auf 100.000 Einwohner 1.096 mehr oder weniger spontane Eigentumsübertragungen. Die Bajuwaren leuchten mit der roten Laterne. Hier sind es „nur“ 273,3 englische Einkäufe pro 100.000 Seppelhosen bzw. Dirndln. Vielleicht sind die Südpreußen aber auch ganz einfach zu dumm zu kauen bzw. haben raffinierter Methoden der persönlichen Bereicherung entwickelt. Im statistischen bundesdeutschen Mittel liegt die Marke bei 460,5.
Not ist in den seltensten Fällen das Motiv
Die Täterprofile sind vielschichtig, und in den seltensten Fällen ist Not oder Armut das Motiv. Die Suche nach dem nervenkitzelnden Kick spielt mitunter auch eine Rolle. Kleptomanie ist eher seltener der Grund. Aber egal: das Gesamtergebnis zählt. Und das ist besorgniserregend. Hier mal ein Lippenstift, dort eine CD, ein Päckchen Erdnüsse, ein Buch, ein Werkzeug, Speicherkarten, Dessous, Markentextilien, Schokoriegel, Kondome. Der Warenwert ist meist gering. Aber das Ganze summiert sich. Auf diesem Feld wird noch einmal zwischen einfachem und schwerem Ladendiebstahl unterschieden. Letzterer liegt vor, wenn Gewalt oder Waffen mit im Spiel oder die Täter gewerbsmäßig bzw. als Bande unterwegs waren. Zwischen 2013 und 2016 haben solche Delikte um 30 Prozent zugenommen, während bei den einfachen Diebstählen ein leichter Rückgang zu verzeichnen ist.
Klebrige Finger sind ein Konjunkturmotor
Ein lukrativer Markt, der ganzen Branchen ein sattes Einkommen garantiert. Sicherheitsfirmen, Personaltrainer, Ingenieure, Konstrukteure, Medien- und Filmschaffende, die Hersteller entsprechender Präventivtechnik und Anwälte leben ganz gut davon. Und zur Vollbeschäftigung bei Justiz und Polizei tragen die kriminellen Klemmer ja irgendwie auch bei. Würden über Nacht alle Menschen ehrlich, das Heulen und Zähneklappern wäre groß. Abertausende Arbeitsplätze fielen weg. Insofern sind Ladendiebe irgendwie sogar ein Konjunkturmotor…
Hase und Igel rennen immer noch um die Wette
Trotz einer immer ausgeklügelter werdenden Überwachung, trotz Sicherheitstechnik vom Feinsten, umfassendem Video-Scanning, RFID-Chips und entsprechender Personalschulung boomt das Geschäft mit den langen, klebrigen Fingern unverdrossen. Es ist wie der Wettlauf zwischen Hase und Igel. Wobei man sich schon fragen muss, wer hier das Langohr und wer der Stachelige ist. Der Handel investiert jährlich zwischen zwei und drei Milliarden Eurodollars in die Prävention, ohne dass sich die Lage an der Front merklich entspannt hat. Würde er es nicht tun, wären seine Verluste aber vermutlich noch drastisch höher.
Die Methoden und Tricks, sich mit Konsumgütern einzudecken, ohne dafür zu zahlen, werden immer raffinierter und dreister. Im Internet kann man sich umfassend über die erfolgversprechendsten Strategien und Kniffs informieren. Da finden Möchtegern-Polen für jede denkbare Situation einen entspreche Handlungsleitfaden. Oder können sich hier Tools bestellen, die beispielsweise das Signal eines RFID-Chips stören bzw. diesen selbst neutralisieren. Alternativ gibt es auch Bauanleitungen für sogenannte “Klautaschen” zum Download. So weit sind wir schon.
Trojanische Pferde und Scheinschwangerschaften
Natürlich weiß auch die Gegenseite um die Methoden der “Konkurrenz”. Da gibt es das “Trojanische Pferd”, den Schwangerschafts- oder Kinderwagentrick, die Masche mit den gebrauchten Kassenbons, den Alt-gegen-Neu-Bluff oder die Umetikettier-Technik. Wie die im Detail funktionieren, muss ja hier nicht an die große Glocke gehängt werden. Um keine schlafenden Hunde zu wecken oder potentielle Nachahmer zu motivieren. Fakt ist, sie flutschen. Da wird getarnt und getäuscht, betrogen und betuppt. Eine falsche Fährte zu legen kann auch nicht schaden. Dem gegenüber steht ein ganzes Arsenal an effektiven Gegenmaßnahmen. Andererseits möchte man das Kontrollnetz aber auch nicht so dicht spannen, weil sich dadurch wiederum auch ehrliche Kunden gestört fühlen – und ausbleiben. Eine verzwickte Lage.
Ein Kopfgeld für jeden ertappten Delinquenten
Neulich habe ich im Shopping-Markt meines (auf Gegenseitigkeit beruhenden) Vertrauens ein Hinweis- und Warnschild entdeckt, das vielleicht schon immer dort hängt, mir aber bisher nicht aufgefallen war. Jeder Ladendiebstahl würde konsequent zur Anzeige gebracht, steht da. Was absolut in Ordnung geht. Und weiter: Jeder ertappte Delinquent müsste eine “Fangprämie” in Höhe von 100 Euro löhnen. Das klingt jetzt etwas nach Kopfgeld, ist aber zunächst mal ein durch die Rechtsprechung sanktioniertes und insofern legitimes Mittel, das sich aus dem Anspruch auf Schadensersatz ableitet, aber keine Schadensersatzleistung in diesem Sinne ist und sein darf. Dabei handelt es sich eher um eine Art “Vertragsstrafe”, die nebenbei auch der Abschreckung potentieller Nachahmer dienen und mittels derer ein “ersatzfähiger Schaden” ausgeglichen werden soll. Mit dem Betrag wird aber vor allem die Aufmerksamkeit des Personals honoriert, das dem Übeltäter auf die Schliche gekommen ist. Kaufhausdetektive wiederum fallen nicht unter diese Regelung. Deren Gehalt nämlich ist dem betriebsähnlichen Aufwand eines Unternehmens zuzuordnen. Den darf der Chef insofern nicht dem ertappten Gauner auf‘s Auge drücken.
Die Bagatellisierung des Unrechtes
Ist ja bei der Geschwindigkeitsüberwachung so ähnlich. Da darf der Hilfspolizist, der mit seiner Kamera am Straßenrand steht und Motive sucht, vom ertappten Autofahrer auch kein zusätzliches Trinkgeld einfordern. Außerdem sind Temposünden Ordnungswidrigkeiten, Diebstähle aber Straftaten. Trotzdem werden letztere oft als Kavaliersdelikte verharmlost, was sie definitiv nicht sind. Und es gibt immer mal wieder Bestrebungen, Ladenmopsereien schön zu reden und zur Ordnungswidrigkeit herabzustufen. Um auf diese Weise Polizei und Justiz zu entlasten – zum Preis einer Bagatellisierung des Unrechtes.
In diesem Fall wären Diebstähle ja nicht schlimmer als Parkvergehen. Die ehemalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin hatte, als sie noch in Amt und Würden war, einmal vorgeschlagen, gegen Ladendiebe ein einheitliches Strafgeld von 150 Mark zu verhängen und es dabei bewenden zu lassen. Die Dame stieß damit jedoch auf fast einhellige Ablehnung. Aber auch die Bundesvereinigung selbstständiger Ladendiebe und Kleinkrimineller hat sich mit ihrer Forderung nicht durchsetzen können, Kaufhausdetektive durch eine einheitliche rosarote Dienstkleidung kenntlich zu machen.
Kaufhausdetektive auf Gratwanderung
Apropos Detektive: Deren Kompetenzen und Handlungsspielräume sind begrenzt. Da gibt es sicherlich angenehmere Möglichkeiten, seine Brötchen zu verdienen. Damen und Herren mit dieser Profession haben grundsätzlich kein Recht, Handtaschen und Rucksäcke von Kunden (oder diese selbst) zu filzen. Es sei denn, der Übeltäter wurde in flagranti ertappt. Sonst darf das nur die “Polilei” – wenn sie denn Kapazitäten frei hat. Und das auch nur dann, wenn ein ganz konkreter Tatverdacht besteht. Weil eine solche Aktion nämlich das Persönlichkeitsrecht tangiert. Andererseits, warum sollte derjenige, der ein reines Gewissen hat, dem privaten Schnüffler auf dessen höfliche Nachfrage hin denn keinen Einblick gewähren? Dadurch erspart er sich mitunter viel Zeit und Ärger. Auch wenn eine solche Situation vielleicht peinlich und unangenehm ist. Sollte der Discounter-Schimanski allerdings frech oder unverschämt werden, kann man sich ja immer noch bei der Geschäftsleitung beschweren.
Für das Sicherheitspersonal ist das oft eine Gratwanderung. Einerseits darf es einen verdächtigen Kunden bis zum Eintreffen der Polizei festhalten. Passiert das aber einem durch und durch ehrlichen Zeitgenossen, der sich nix zuschulden hat kommen lassen, kann dieser wiederum Strafanzeige stellen und hat gegebenenfalls sogar Anspruch auf Schadensersatz.
Inzwischen sind immer mehr Markt- und Geschäftsbetreiber dazu übergegangen, den Kunden das Mitbringen von Handtaschen, Tüten und Rucksäcken zu untersagen. Beim Betreten des Ladens müssen sie diese abgeben. Das ist aber nur dann statthaft, wenn die Taschen bewacht oder sicher eingeschlossen werden können.
Die meisten „Shoplifter“ kommen ungeschoren davon
Aber es ist nun leider Realität, dass die „Shoplifter“ oft genug ungeschoren davon kommen und kaum etwas zu befürchten haben. (Das gilt übrigens auch für Diebe, die ihren Mitmenschen das Kostbarste stehlen, das sie haben: Zeit. Aber das ist wieder ein anderes Thema). Der Handelsverband Deutschland (HDE) hat erst unlängst wieder beklagt, “dass dem Staat Wille und Möglichkeiten zur Rechtsdurchsetzung fehlen”. Mitunter erscheine die Polizei erst gar nicht am Tatort. Und wenn doch, ließe sie es mit der Personalienfeststellung gut sein. Und man hört nie wieder etwas davon.
Die Händler seien frustriert und verzichteten immer häufiger darauf, Strafanzeige zu stellen. Einige nehmen aber auch schon mal das Recht in die eigene Hand – oder biegen es sich passend. Weil das einträglicher ist und mitunter auch für etwas Genugtuung sorgt. Dahingehend war der Filialleiter einer Einzelhandelskette in Berlin deutlich übers Ziel hinaus geschossen. Er verprügelte im September vergangenen Jahres einen ertappten 34-jährigen Dieb so heftig, dass dieser einige Tage später an den Folgen starb. In besagtem Geschäft soll es bereits vorher zu massiven Attacken auf Tatverdächtige gekommen sein. Wegen Körperverletzung mit Todesfolge erließ der Richter Haftbefehl gegen den 29-jährigen Prügler. Ob’s das alles wert war?
1.000 für den Verzicht auf Strafanzeige
Es geht aber auch eine Nummer kleiner. Um sich der Schmach eines öffentlichen Verfahrens nicht aussetzen zu müssen, akzeptieren Eltern und Jugendliche schon mal drakonische Konsequenzen. Dergestalt, dass der polnische Triathlet seine Schuld abarbeitet oder Bearbeitungssummen in Höhe von mehreren hundert Euro leistet. Doch solche Praktiken der Diebstahlsahndung sind illegal.
Das Oberlandesgericht in Karlsruhe hatte vor einigen Jahren einen geschäftstüchtigen Kaufhausdetektiv wegen Erpressung zu einer Geldstrafe von 2.800 EUR verdonnert. Der Regal-Columbo hatte von einem „Fladerer“ für den Verzicht auf eine Strafanzeige tausend Euro verlangt. Bei dem Urteil spielte es auch keine Rolle, dass der Täter von sich aus eine Geldleistung angeboten hatte. In einem anderen Fall wollte ein (wie sich später herausstellte, zu Unrecht) Beschuldigter 6.000 EUR Schmerzensgeld kassieren, weil man ihn des Diebstahls bezichtigt hatte. Er machte eine Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte geltend. Das Oberlandesgericht Koblenz lehnte die Forderung aber ab, weil der Geschäftsleiter in Wahrnehmung seiner berechtigten Interessen gehandelt hätte. An der Kasse habe sich ein gewichtiger Verdacht ergeben, der auch im Sinne eines klaren Tatvorwurfs habe ausgesprochen werden dürfen.
Luftverwirbelungen zwischen den Warenregalen
Wenn man sich die individuellen Fallschilderungen in den einschlägigen Rechtsberatungsforen durchliest, drängt sich der Eindruck auf, dass die meisten der Beschuldigten lediglich durch eine Verknüpfung unglücklicher Umstände in diese missliche Lage gekommen sind. Da kann das Parfümfläschchen schon mal durch den beim Vorbeiflanieren erzeugten Fahrtwind oder andere aerodynamisch bedingten Luftverwirbelungen von sich aus aus dem Regal in die Gesäßtasche der Kundin gehüpft sein. Oder die alte Süffel hat die Buddel Cognac nur deshalb in die Manteltasche gesteckt, um die Hände für weitere hochprozentige Einkäufe frei zu bekommen. Woran sie sich später an der Kasse aber nicht mehr erinnern konnte.
“Eine ausgesetzte Fangprämie ist vom Warendieb in angemessenem Umfang zu erstatten“, hat der Bundesgerichtshof mal geurteilt. Das war bereits 1979. De Richter hielten damals eine Summe von 50 DM für angemessen. Heute findet die Rechtsprechung 50 bis maximal 70 Euermänner okay. Wobei sich die Gelehrten immer noch uneins sind, wann denn genau die Zahlung fällig wird. Sofort nach Entdeckung oder erst nach Abschluss des Falls/Verfahrens?
Wucher bei den Fangprämien
Generell gilt die Maxime, dass der Betrag und der Wert der gestohlenen Ware irgendwie in Relation zueinander stehen müssen. Während die Erhebung einer solchen Pauschale in Bagatellfällen sogar unzulässig sein kann. Laut BGH ist dies beispielsweise bei der Entwendung von “geringwertigen Süßigkeiten durch Jugendliche” der Fall. Eine große SB-Warenhauskette, die 275 Euro Fangprämie für jeden erwischten Sünder ausgelobt hatte, stieß vor Gericht jedenfalls auf Unverständnis. Eine Frau, die Lebensmittel zum Ladenpreis von 12,72 Mark stibitzt hatte, sollte diese Summe zahlen. Und noch einmal den gleichen Betrag für die Fallbearbeitung drauf legen. Das grenzt fast schon an Wucher. Aber man kann’s ja mal versuchen. Besser ist, man tut es nicht. Das gilt übrigens für beide Seiten.
Kriminelle in Wirtschaft und Verwaltung
Preisfrage bei Jauch: Der schnellste Weg zum Wohlstand? Ehrlich währt’s am längsten! In der deutschen Automobilindustrie weiß man das auch. Aber das ist wieder eine andere Baustelle. Es gibt die unterschiedlichsten Definitionen und Rechtfertigungen für diese grenzwertige und doch eher unschöne Form des Warenaustauschs. Während der anglikanische Geistliche und Philosoph John Papworth das „Flözen“ in Supermärkten sogar als „dringend notwendige Umverteilung von Ressourcen“ rechtfertigt, definiert der deutsche Aphoristiker Erwin Koch Klauen als „Anteilnahme am Vermögen anderer“, wie sie unsere Finanzämter ja geradezu perfektioniert haben. Der Konfuzius-Schüler Tseng Tse hatte die Begriffserklräung schon vor über 2.500 Jahren um eine interessante Komponente erweitert. Sinngemäß führte er aus, dass sich des Diebstahls auch derjenige schuldig mache, der ein hohes Gehalt beziehe, ohne etwas dafür zu leisten! Demzufolge wären Millionen unserer Manager und Führungskräfte in Wirtschaft, Verwaltung und Behörden kriminell.