Von Jürgen Heimann
Der Mann zählt zu den schillerndsten Figuren am Himmel Europas und zeigt, obwohl er mittlerweile auch schon 77 Jahre auf den Holmen hat, noch keinerlei Neigungen, sich auf ein reines Fußgängerdasein zu reduzieren. Im Cockpit eines Flugzeugs fühlt sich Walter Eichhorn nach wie vor am wohlsten. Erst im vergangenen Jahr haben er und sein gen-erblich entsprechend vorbelasteter Sohn Toni sich zwei neue Hochleistungsmaschinen vom Typ EXTRA-LT 330 zugelegt, mit denen sie in ihrer Post-T6-Ära bei Airshows im In- und Ausland Formationskunstflug vom Feinsten präsentieren. Was viele nicht wissen: Das Piloten-Urgestein aus Bad Camberg gehört(e) hier zu Lande auch zu den Pionieren und Wegbereitern des modernen Fallschirmsports. Anno 1972 hatten er und seine nicht minder (Adrenalin) besessenen Freunde über St. Johann in Tirol die erste 10-er-Formation Europas hingelegt. Und das war damals eine Sensation. Der „verrückte Haufen spaßbesessener Individualisten“, dem die 15 wagemutigsten Sportspringer Deutschlands angehörten, nannte sich bezeichnenderweise „Walters Vögel“. Ein Name, der in den Annalen des Skydivings ganz dick unterstrichen ist.
An diese aufregende und spannend Zeit aus den Kinder- und Jugendtagen des Relativspringens erinnert eine sehenswerte vierteilige Dokumentation, die in diesen Wochen von dem österreichischen Fernsehsender Servus-TV ausgestrahlt wird und deren einzelne Folgen jeweils zweimal wiederholt werden. Titel: „Pioniere des freien Falls“. Teil 1 flimmerte bereits am 8. Februar über die Mattscheibe, Teil 2 steht am 15. Februar erstmals auf dem Programm. Am 22. Februar und 1. März folgen Nr. 3 und 4. Servus-TV ist auch bei uns via Kabel und Satellit zu empfangen. Die genauen Sendetermine hier: http://www.fernsehserien.de/pioniere-des-freien-falls Die einzelnen Folgen können zudem in der Mediathek des Senders abgerufen werden.
Namensgeber Walter Eichhorn war die treibende Kraft, der Maitre de Plaisir, des Kommando- Unternehmens „Piepmatz“. Und er war wohl auch der Fanatischste von allen, einer, dessen natürlicher Autorität sich die von der gleichen Idee beseelten Kollegen unterordneten, mitunter allerdings zähneknirschend. Einmal ein (ehrgeiziges) Ziel vor Augen, sei er „absolut humorlos, gnadenlos und kompromisslos“ gewesen, erinnert sich sein Mitstreiter Dr. Hanshelmut Thiele. Aber sonst, räumt der Arzt freimütig ein, wäre „dieser wilde Haufen“ aber auch nie so weit gekommen. Und das Ziel lautet zunächst: Der Bundeswehr die Vorherrschaft auf diesem Feld des Luftsportes streitig zu machen.
In dieser Zeit entwickelte sich neben dem klassischen Ziel- und Stilspringen, das die „Firma Y“ unerreichbar dominierte, als neue Disziplin das Formationsspringen. Hier witterten die Jungs um Eichhorn ihre Chance. Sie betraten mehr oder weniger Neuland. Die Devise konnte deshalb nur lauten: „Learning by Doing“. Es gab keine Lehrbücher, aus denen sie für das, was sie vorhatten, schöpfen konnten. Und in Kursen wurde solches auch nicht gelehrt. Also ausprobieren.
Zivile Fallschirmspringer waren Anfang der 70er Jahre gegen die Armee-Hüpfer eigentlich chancenlos. Letztere verfügten über bessere Trainingsbedingungen und das bessere Equipment und brauchten für ihre Sprünge zudem auch nichts zu bezahlen. Dienst ist schließlich Dienst, und Schnaps ist Schnaps. Folge: Die Stahlhelm-Fraktion gewann jede Meisterschaft und jeden Wettbewerb, während die zivilen Kollegen unter „ferner liefen“ rangierten. Aber dann schlüpften „Walters (schräge) Vögel“, wurden flügge und begannen zu zwitschern. Die abgedrehte Truppe, deren Mitglieder der „Chefe“ in Hamburg, Kiel, Köln, München, Freiburg, Stuttgart und auf dem Westerwald rekrutiert hatte, gewann in Folge drei Deutsche Meisterschaften und holte 1973, 1974 und 1975 dreimal WM-Bronze. In Folge sorgte das Team als Showact auf zahlreichen internationalen Airshows für Furore.
Die Lebensphilosophie der „Paraholics“
Adrenalin war der Stoff, der die Männer zusammenschweißte und sie das überlieferte Musketier-Motto „Einer für alle, alle für einen“ adaptieren ließ. Im Rausch des freien Falls fand ihre Sucht kollektive Erfüllung. Wie diese „Speedstars“ drauf waren und tickten, belegt das überlieferte Zitat eines der Ihren, des Kölners Peter Rast: „Ein Leben ohne Skydiven ist möglich, aber es ist sinnlos!“ Da erübrigt sich jeder weiterer Kommentar. Fallschirmspringen war das Einzige, das im Dasein dieser wilden Kerle, die sich selbst als „Paraholics“ bezeichneten, zählte. Aber es war in der Rückschau nur eine kurze, aber ungemein erfolgreiche und intensive Episode in der Jahrzehnte langen aero-tischen Karriere Walter Eichhorns. Als Jumper hat er sich 2000 mal in die Tiefe gestürzt, ein Zehnfaches an Flugstunden als verantwortlicher Pilot weist sein persönliches Bordbuch aus. Und darin sind noch etliche Seiten frei.
Als Sohn eines Luftwaffenoffiziers hatte Eichhorn seine ersten neun Lebensjahre auf und direkt am Fliegerhorst in Jever verbracht. Das muss eine prägende Zeit gewesen sein, in der die Keimzelle für die spätere Fliegerleidenschaft gelegt wurde. Jagdflugzeuge vom Typ Me 109 waren für Klein-Walter damals ein alltäglicher Anblick. Viele Jahrzehnte später sollte er weltweit derjenige sein, der über die meisten Nachkriegs-Erfahrungen und Flugstunden auf und mit diesem Muster verfügte und anderen das kleine Einmal-Eins beibrachte, um die wenigen noch verbliebenen (restaurierten) Exemplare dieser anspruchsvollen Maschine beherrschen zu können. Aber das ist eine andere Geschichte.
Zwei VW-Käfer für das erste eigene Flugzeug
Die deutschen Luftikusse (und solche, die es werden wollten) waren von den Siegermächten nach dem Zusammenbruch des „100-jährigen Reiches“ ja komplett „gegroundet“ worden. Noch zehn Jahre nach Kriegsende sah es keineswegs so aus, als würden sie sich jemals wieder in die Luft erheben dürfen. Also packte Eichhorn, inzwischen zum jungen Mann gereift und gelernter Kfz-Schlosser, seine Siebensachen und wanderte nach Kanada aus. Den Plan hatte er, nachdem ein früherer Schulfreund vorausgeeilt war, schon zwei Jahre früher gefasst. Im Ahorn-Staat kloppte der Immigrant als Lkw-Fahrer und -Schrauber in einer Spedition Überstunden ohne Ende und finanzierte sich so seine Flugausbildung auf dem nur zehn Geh- und Fährminuten von seinem Arbeitgeber entfernt gelegenen Flugplatz. Die Berufspilotenlizenz erwarb er unmittelbar im Anschluss. Der Kauf eines eigenen Flugzeugs – bezeichnenderweise eine T-6 – erfolgte mehr oder weniger zwangsläufig. Der Brummer kostete den Wahl-Exilanten damals 2000 kanadische Dollar, so viel, wie man damals für zwei VW-Käfer in Deutschland hätte berappen müssen. Der Papa daheim in Germanien schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
Weil die North-American auch mit einem Rettungsfallschirm ausgestattet war, musste die Handhabung dieses Geräts natürlich in der Praxis ausprobiert werden: „Ich wollte halt wissen, wie das Ding funktioniert“. Das erschloss ihm eine neue Welt und war die eigentliche Geburtsstunde seiner „Vögel“. Zwischen 1964 und 1970 brachte Walter Eichhorn das kanadische Fallschirm-Nationalteam bei vier Weltmeisterschaften als Absetzpilot in die Luft. Dies selbst, nachdem er längst wieder nach „good old Germany“ zurückgekehrt war und bei der Deutschen Lufthansa als „Azubi“ angeheuert hatte. Nach dem letzten World-Cup im slowenischen Bled stand für den Kranich-Capitano allerdings fest: Die nächste WM fliege ich nicht, die springe ich!
Aus dem Nachlass eines der weltbesten Freifall-Kameramänner seiner Zeit
Was folgte, zeichnet die Servus-TV-Doku von Christoph Gottwald in eindrucksvollen Bildern nach. Der Autor konnte bei der Visualisierung seines Beitrags aus dem Fundus des 1999 verstorbenen Peter Böttgenbach schöpfen, der nicht nur zu den fähigsten Athleten von „Walters Vögeln“ zählte, sondern zu seiner Zeit auch als weltbester Freifall-Kameramann schlechthin galt. Seine Aufnahmen vermitteln den Zuschauern eine Ahnung, wie berauschend der freie Fall sein kann und wie, gemessen an den Strukturen und Bedingungen der Moderne, beschwerlich (und auch gefährlich) der Fallschirmsport damals war. Mit den klobigen Rundkappen (beispielsweise dem „Para-Commander“), wie sie seinerzeit gebräuchlich waren, mag sich heute kein Aero-Athlet“, der etwas auf sich hält, mehr abgeben – aus ganz unterschiedlichen Gründen übrigens.
Millimeter genau zu steuerende Flächenfallschirme, wie sie inzwischen weltweit gebräuchlich und selbstverständlich sind, kamen erst Ende der 70er Jahre nach und nach „in Mode“. Ihre „Reserve“, also den Zweitschirm, trugen die Skydiver von damals anfangs noch in einem separaten Container vor sich her, was die Bewegungsfreiheit im freien Fall einschränkte. Und die Auswahl an entsprechend großem Fluggerät, in dessen Bauch eine zweistellige Zahl an Springern Platz fand, war auch nicht sooo doll. Heuer gibt es da beispielsweise die Pilatus-Porter, wie sie auch auf der Breitscheider Hub im Einsatz ist, die Twin-Otter, die gleich 23 Nasen fasst, oder die Skyvan (24 Passagiere). „Anno batsch“ war, was die diesbezügliche Ladekapazität anging, da eher Hängen im Schacht, zumindest jenseits der Kasernenmauern. Die Bundeswehrkollegen konnten ja immerhin auf ihre Noratlas- bzw. Transall-Transporter bzw. entsprechend dimensionierte Hubschrauber wie den „Teppichklopfer“ Bell UH1-D oder, noch eine Nummer größer, das CH-53-„Monster“ zurückgreifen. Die praktizierenden Himmelstaucher der zivilen Fraktion hingegen mussten improvisieren. Meist wurde dann ein „Load“ auf drei kleinere Flugzeuge verteilt. Selbige wollten aber erst mal gefunden sein.
Haarsträubende Anekdoten
Deshalb war es für Walters über ganz Deutschland verteilte „Vögel“ nichts Ungewöhnliches, dass Trainingseinheiten mal in der Schweiz, mal in Tirol, in Frankreich, im Hohen Norden oder tiefsten Süden angesetzt wurden, je nachdem wo gerade das benötigte „Material“ zur Verfügung stand. Insofern zahlten die Teammitglieder, für die der Springsport eine Art mentales Grundnahrungsmittel war und die ihr Hauptquartier zeitweise im Hessischen Breitscheid bzw. in Gelnhausen aufgeschlagen hatten, zeitlich und monetär einen hohen Preis für ihre Passion. Aber der Spaß kam natürlich nicht zu kurz. Viele (teils haarsträubende) Anekdoten ranken sich um dieses Ausnahme-Ensemble. Schwarz auf Weiß nachzulesen sind sie in Hanshelmut Thieles ebenso spannenden wie informativen Buch „Abenteuer Fallschirmsport – 46 Jahre zwischen Himmel und Erde“, das zum Preis von EUR 19.90 auch über den Deutschen Fallschirmsportverband bezogen werden kann. ISBN: 973-3-929792-97-3. Das plaudert ein Ex-Vogel kenntnisreich und humorvoll aus dem Nähkästchen.
Der Fernsehjournalist Christoph Gottwald aus Köln ist den Spuren von fünf Team-Angehörigen gefolgt, hat sie zu Hause aufgesucht und „gelöchert“. Er traf in Walter Eichhorn (Bad Camberg), Dr. Hanshelmut Thiele (Bruchsal), „Crazy-Krauth“ Werner Fleig (Elmshorn) Hartmut „Hardy“ Huber und Marwig „Wiggerl“ Herzog (beide München) auf quietschfidele und prächtige, ihrer Sturm- und Drang-Zeit schon etwas entrückte Herren, die aber nur ob der Anzahl ihrer Lebensjahre als „betagt“ durchgehen. Und sie hatten viel zu erzählen, Kurioses, Spannendes, Unglaubliches. Sie schildern ihre Sicht der Dinge aus einer Zeit, die längst Geschichte ist und in der sie selbst Geschichte geschrieben hatten.
Der erste Basejumper als Double von Theo Lingen
Hartmut Huber ist übrigens jener Mann, der (bereits) 1963 von einer Autobahnbrücke im Bajuwarischen den ersten Basejump in Deutschland gewagt hatte. Und er war daneben schon immer ziemlich kreativ, wenn es galt Möglichkeiten aufzutun, sein doch recht kostspieliges Hobby und das der Freunde zu finanzieren. Bei den Filmaufnahmen zu der Hansi Kraus-Klamotte „Hurra, die Schule brennt“ doubelten er und sein Kumpel „Wiggerl“ Ende der 60-er Jahre Peter Alexander und Theo Lingen, die laut Script in dunklen Anzügen mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug springen sollten. Dafür gab’s als Gage für jeden 100 Deutschmark auf die Kralle – und den feinen Zwirn durften die Beiden ebenfalls behalten. Die edlen Klamotten leisteten in den Folgejahren noch gute Dienste, wenn es galt, bei Feierlichkeiten bzw. offiziellen Anlässen eine gute Figur zu machen und Eindruck zu schinden.
Das Feuer der Leidenschaft für’s Skydiving brennt, wenn auch vielleicht in ganz leicht abgeschwächter Form, in einigen der in Ehren Ergrauten, die heuer weit jenseits der 70 sind, noch immer. Walter Eichhorn hat sein Packerl eigentlich schon längst ausgemustert, aber ab und zu biss ihn doch noch mal die Maus. Seinen letzten Sprung hat der „Stifftekopp“ vor 5 Jahren gewagt, seinen letzten Flug gestern. Aber es soll natürlich noch lange nicht der letzte Take-Off gewesen sein. Das Fliegen hat den Lufthansa-Kapitän i.R. ihn jung und fit gehalten.
Skydive-„Opas“ peilen neuen Weltrekord an
Einige Ex-Bewohner des Walter’schen Vogelnestes wollen nächstes Jahr gemeinsam mit anderen Freefall-Senioren in den USA einen neuen Weltrekord in der Klasse „Ü 70“ im Formationsspringen aufstellen: Die Bestmarke, die seit 2013 bei einer Gruppe mit 26 entsprechend betagten Springern liegt, soll mit einem 30er-Team getoppt werden. Das mag, gemessen an den Formationsgrößen, die heutzutage erreicht werden – der aktuelle, 2006 in Thailand erzielte Weltrekord liegt bei 400 Skydivern – zunächst einmal bescheiden erscheinen. Aber vor dem Hintergrund, dass die Beteiligten in einem Alter sind, in dem andere allenfalls mit dem Rollator in der Fußgängerzone Slalom fahren oder bei Seniorenfeiern des VdK Polonaise tanzen, sieht die Sache doch schon ein klein wenig abenteuerlicher aus. Respekt vor solchen Leuten! So einen Opa hätte ich auch gerne.