Rotorman's Blog

Gänsehaut-Momente vor dem Dom: „Bonifatius“
als gigantisches Spektakel unter freiem Himmel

Spektakuläre Kulisse: Der Fuldaer Dom als dominantes Bühnenbild: Davor eine 18 Meter hohe und 50 Meter breite Bühne. Platz genug für 130 Chorsänger, 50 Symphoniker und das 30-köpfige Ensemble. Foto: Spotlight

Von Jürgen Heimann

Es waren, keine Frage, d i e  Musical-Momente des Jahres 2019. Packt man etwas Pathos auf die Schippe, wird schnell ein „Jahrhundertereignis“ daraus. Zumindest war es das in den Augen nicht weniger der euphorisierten Besucher, die sich unterm Strich auf insgesamt 35.000 summierten und denen es Ende August vergönnt war, die auf nur wenige Tage bemessene Aufführungsreihe von „Bonifatius“ unter freiem Himmel auf dem Fuldaer Domplatz zu erleben. Eine gigantische, von Kaiserwetter begleitete Inszenierung, mit der die hiesige spotlight musical GmbH bis dato gültige Maßstäbe verschoben und zugleich neue gesetzt hat. Produzent Peter Scholz hatte schon lange im Vorfeld von „Deutschlands größtem Musical-Event“ gesprochen – und damit den Mund mitnichten zu voll genommen.

Die Erwartungen des Publikums waren nach all dem vorangegangenen medialen PR-Getöse enorm und hochgeschraubt, wurden aber letztendlich noch übertroffen. Und das, obwohl keiner so richtig ahnen konnte, was da auf einen zukommen mochte. Die Verantwortlichen betraten damit Neuland, das sie (finanziell, logistisch und organisatorisch) auch nur deshalb befrieden konnten, weil kapitale Unterstützer hinter diesem ehrgeizigen, in das 1275. Stadtjubiläum eingebetteten Projekts standen. Es sollte dessen Highlight werden.

Grandioser Rundumschlag

Bonifatius steigt zum Bischof von Mainz auf, nachdem Amtsvorgänger Gewilip vom Papst suspendiert worden ist. Aber so richtig wohl scheint sich der wackere Missionar an seinem neuen Arbeitsplatz, an dem es recht freizügig her geht, nicht zu fühlen. Foto: Spotlight

Die Lebensgeschichte des Missionars Winfrid von Crediton (673-754) in ein klangvolles Bühnenstück zu pressen, war, 15 Jahre ist es jetzt her, der Initialfunke gewesen, der die damals noch etwas untermotorisierte osthessische Musical-Rakete hatte abheben und in Folge auf steilem Kurs bleiben ließ. Mittlerweile hat sich die  Bischofsstadt zu Deutschlands  Musicalhauptstadt gemausert – Hamburg hin, Stuttgart her. Dass dieser Axt schwingende Gottesmann namens Bonifatius einmal zu einer solchen Übergröße mutieren würde, hatte damals keiner ahnen können. Regisseur Stefan Hubers Einstand bei der hessischen „Konkurrenz“ – der detailversessene Inszenator hatte zuletzt bei den Festspielen in Bad Hersfeld die „Titanic“ vom Stapel laufen lassen –  geriet zum grandiosen Rundumschlag. Dem Mann gelang das Kunststück, ein relativ  spartanisch angelegtes Werk in die Mega-Massentauglichkeit transferiert zu haben, ohne dass der dem Geschehen innewohnende emotionale Charme darunter leiden musste.

130 Chorsänger und 50 Symphoniker

Feuerwerk aus Klang und Farbe: Auf dem Domplatz fanden pro Vorstellung 4.260 Besucher Platz. Foto: Spotlight

Gut, an eine solche Kulisse, wie sie der von Sven Sauer farbexplosiv und phantastisch illuminierte Fuldaer Dom bot, reichen andere Spielstätten auch nicht nur annähernd heran, nicht einmal die Stiftsruine in Hersfeld. Die fasst ja auch „nur“  1.600 Besucher, während es hier auf dem 6.790 Quadratmeter messenden Freigelände  an acht Abenden hintereinander jeweils 4.260 waren. Allein der Anblick dieser Menge machte Staunen. Was auf der anderen Seite des „Grabens“ seine Fortsetzung fand. Die Bühne: 18 Meter hoch und über 50 Meter breit, nach hinten begrenzt durch die 40 Meter hohe, mit Projektionen komplett „bespielte“ Domfassade. Auf der linken Seite das 50 Köpfe zählende und fulminant aufspielende Orchester, die Kölner Symphoniker, unter der Leitung von Inga Hilsberg, rechts der aus sage und schreibe 130 Sängern und Sängerinnen aus der Region gebildete und von Carsten Rupp geführte Projektchor.

Ein Feuerwerk aus Klang und Farbe

Dem 30 Köpfe starken Ensemble gehörte der zentrale Bereich in der Mitte. Die mit 31.000 LED-Lämpchen beleuchtete und von einem heb- und senkbaren Dach gedeckelten Spielbühne bestand aus Glas und wies, um den Zuschauern ein besseren Blick auf das Geschehen zu ermöglichen, eine Neigung von acht Grad auf, was eine zusätzliche Herausforderung für die Künstler darstellte. Leider wurden die beiden riesigen, oberhalb  vom Chor und Orchester platzierten Projektionswände nur sporadisch von den permanent im Einsatz befindlichen Bühnenkameras „bedient“, wofür gerade den weiter hinten sitzenden Zuschauern dankbar gewesen wären. Der Sound war glasklar, 98 Lautsprecher und 120 Mikrofone ermöglichten eine gleich gute Akustik auf allen Plätzen des Areals. 176 Scheinwerferbatterien setzten das Geschehen ins rechte Licht.

Nur wenige Meter von der Bühne entfernt, hinter den dicken Mauern in der Krypta des Doms, ruhen die Gebeine dessen, um den und dessen Lebenswerk sich hier alles drehte: die des heute noch als „Apostel der Deutschen“ verehrten Benediktinermönchs Bonifatius eben. Er hätte seine helle Freude an dem Geschehen gehabt. Und die hatte auch der amtierende Fuldaer Bischof Michael Gerber.

Trotz der „biografischen“, am Wirken des großen Missionars orientierten Thematik ist „Bonifatius“ kein (rein) religiöses Stück, auch wenn es den Kern der Botschaft des Heiligen reflektiert, den unerschütterlichen Glauben an Gott. Es ist beste und mit einer zarten Liebensgeschichte garnierte Unterhaltung, deren Message gleichwohl lautet: Glaube an Dich, glaube an Deine Kraft, und Du kannst viel bewirken. Wie es eben auch der Namensgeber vor 1275 Jahren vermochte.

Zwischen Lust und Laster, Glaube und Anstand

Der realhistorische Hintergrund dieser Zeit trat deutlicher zutage als in den bisherigen Aufführungsreihen im hiesigen Schlosstheater. Es ging um Intrigen und Machtkämpfe innerhalb der Kirche und der Politik, solche zwischen beiden Seiten; es ging ebenso um Lust und Laster, Verrat  Täuschung und Lügen, aber auch um Menschlichkeit, Aufrichtigkeit und Anstand. Dass die katholischen Fürsten und klerikalen Würdenträger damals nicht so ganz nach den Idealen, die man zum Beispiel einem Bonifatius zuschrieben hat, gelebt haben, wird drastisch, aber dennoch familienfreundlich geschildert. Bestes Beispiel dafür ist der lasterhafte und hinterfotzige Bischof Gewilip aus Mainz, der diesmal durch Frank Winkels verkörpert wurde.

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„Wenn das wirklich Liebe ist“: Für Sturmius (Friedrich Rau) und Alrun (Judith Jandl) gibt es als Paar keine gemeinsame Zukunft.

„Boni“, das auf dem Buch von Deno Ziegelmann basiert, war das 2004 uraufgeführte musical-ische Erstlingswerk von Komponist Dennis Martin. Es sei, sagt er heute, in einer Zeit entstanden, „in der wir noch keine Ahnung von Musiktheater hatten“. Kaum zu glauben. Fakt ist, das schon damals vor 15 Jahren aufblitzte, mit welchem Ideenreichtum dieser Kreative seine Partituren zu würzen imstande ist. Martins Feder entstammten in Folge ein ganzer Strauß unsterblicher Melodien, verpackt in Bühnen-Hits wie „Elisabeth, die Legende einer Heiligen“, „Die Päpstin“, “Der Medicus“ und viele andere. Apropos: Die Frau auf dem Heiligen Stuhl hat in der zu Ende gegangenen Spielsaison in Wiederaufnahme über 20.000 Besucher ins kleine Fuldaer Schlosstheater gelockt, 18.300 sahen dem großen Medizinmann beim Operieren in Isfahan aufs Skalpell. „Bonifatius“ inklusive war der Fuldaer Musical-Sommer 2019 somit der mit Abstand erfolgsreichste überhaupt.

 Verblüffendes Opening

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Für Bonifatius (Reinhard Brussmann, rechts) hat das letzte Stündlein geschlagen. Der friesische Heidenfürst Radbod (Andreas Lichtenberger, links) lässt den Gottesmann über die Klinge springen. Der Mainzer Ex-Bischof Gewilip (Frank Winkels im Hintergrund rechts) hat den Hinterhalt eingefädelt. Foto: Spotlight

Die klangvolle Lebensgeschichte des berühmten Missionars  hatten die Fuldaer „Spotlighter“ für ihre gigantische Open-Air-Version gründlich überarbeitet und angepasst. Was samt und sonders für die Beziehung der einzelnen Charaktere und deren Wechselwirkung untereinander gilt. Waren die Figuren früher kaum miteinander verzahnt, traten deren Verbindungen in der Neuinszenierung nun wesentlich deutlicher zutage. Und auch der Einstieg ließ viele zunächst stutzen. Da standen Leute in Alltagsklamotten der Moderne auf der Bühne. Eine Theatergruppe der Neuzeit, die die Bibel des Bonifatius aus dem Dom geklaut hatte, dessen Leben nachspielen will und sich plötzlich in der dramatischen Historie seiner Zeit befindet. Und von diesem Punkt an nahm das Geschehen, das mit dem gewaltsamen Tod des Mönchs durch die Hand des friesischen Heidenführers Radbod noch nicht endete, gewaltig Fahrt auf.

Reinhard Brussmann in der Rolle seines Lebens

Bonifatius stirbt in den Armen seines Schülers Sturmius. Reinhard Brussmann und Friedrich Rau lieferten in Fulda eine bestechende Performance ab. Foto: Spotlight

Kommen wir zu den Personalien. Dabei konnte es, was die Titelrolle anging, von Anfang an nur einen geben: Reinhard Brussmann, der Ur-Bonifatius. Keiner vermag die Figur des unerschrockenen Missionars, dessen Überzeugungskraft, aber auch dessen Selbstzweifel und Ängste so glaubhaft und nachdrücklich zu transportieren wie der charismatische Österreicher. Es war und ist die Rolle seines Lebens. Brussmann, der schon vor Jahrzehnten als erster deutschsprachiger Valjean in „Les Miserables“ Musicalgeschichte geschrieben hatte, zählt seitdem zu den verlässlichsten und vielseitigsten Konstanten in diesem schnelllebigen und oft genug oberflächlichen Metier. Ein großartiger Performer, stimmlich wie schauspielerisch. In Fulda gehört dieser Ausnahmekünstler längst zum personellen Spotlight-Inventar. Er ist Publikumsliebling, Vorbild und väterlicher Freund für viele der jüngeren Kollegen.

Ein Gebet, das erhört wurde

In der aktuellen Bonifatius-Produktion war der Mann gezwungen, seine persönlichen Leistungs- und Belastungsgrenzen zu dehnen. Er stand fast in jeder Sekunde des Stücks im Fokus, wohlwissend, dass ein Gelingen von ihm und seiner Form abhängen würde. Eine riesige und auch belastende Verantwortung, der er sich stellte und die er souverän meisterte. Die Zuschauer feierten ihn dafür – zu Recht! Sein flehentliches Gebet „Gib‘ mir Kraft“ hallt immer noch nach – und wurde offensichtlich auch vor Ort erhört.

Starke Frauen!

Starke Frau(en): Lioba (Anke Fiedler) räumt im Männerhaushalts ihres Cousins Bonifatius (rechts) gehörig auf. Dem fehlen die Worte. Foto: Spotlight

Friedrich Rau als Bonifatius-„Azubi“ Sturmius und Judith Jandl als Alrun gaben ein perfektes Paar ab, das letztendlich doch nicht zusammenfinden bzw. zusammenbleiben durfte. Zwei ganz sichere Bänke im Gesamtpaket, die mit „Kann das wirklich Liebe sein“ für einen weiteren Gänsehautmoment des Abends sorgten. Besetzungstechnisch hat man ja in Fulda seit eh und je ein gutes Gespür und ein sicheres Händchen. Dafür steht auch Äbtissin Lioba, die Cousine des Missionars, die selbigen gehörig die Leviten liest. Anke Fiedler erwies sich bei diesem (wenn auch nicht besonders ausgeprägten) Part als Glücksgriff. Das vokal-starke Temperamentbündel aus Berlin, das sich bereits in den beiden zurückliegenden Spielzeiten als Päpstin-Cover wärmstens empfohlen hatte, räumte mit „Starke Frauen“ gehörig ab  und knüpfte nahtlos an die packende Performance einer Mara Dorn an,  die diesen Song bereits bei der Uraufführung vor 15 Jahren zum  Showstopper gemacht hatte.

Backstage: Audienz bei Bonifatius. Foto: Privat

Stark (und echt zum Fürchten) auch Andreas Lichtenberger als Heidenfürst Radbod, ebenso Simon Steiger und Tom Schimon als Karl Martells überdrehte Söhne Karlmann und Pippin. Letztere sorgten in kleineren Dosen für die komödiantischen Momente des Stücks, was auch Alexander von Hugo vermochte, der als Conferencier durch das Stück geleitete. Als Bonifatius-Biograf musste er auf Geheiß von dessen Nachfolger Lullus (Max Gertsch) das Wirken des Missionars dramatisch etwas aufpeppen.

Das muss man jetzt erst mal sacken lassen

Der Erfolg hat viele Väter (und Mütter). In Fulda waren es derer über 300, die vor und hinter den Kulissen für einen reibungslosen Ablauf sorgten. Die Toilettenfrauen inklusive.  „Boni“, und darüber besteht Einigkeit, hat den Rahmen alles bisher Dagewesenen gesprengt. Damit sind die Verantwortlichen in völlig neue Dimensionen vorgestoßen. Ob sich solches wiederholen lässt, ist fraglich. Vorerst bleibt es jedenfalls erst einmal bei der Einmaligkeit des Gebotenen. Die daran Beteiligten müssen das jetzt erst mal sacken lassen. Und die Besucher auch.

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