Von Jürgen Heimann
Tecklenburg geht auf die Barrikaden. Doch den Soundtrack liefern nicht die Rolling Stones. Der ist auf dem Mist von Claude Michel Schönberg gewachsen. Statt “Street Fighting Man” erklingt das “Lied des Volkes”. Derweil an den Tischen dunkles Schweigen herrscht. Die „Elenden“ mucken auf und zeigen einer brutalen Obrigkeit den Stinkefinger –ziehen aber dabei zunächst den Kürzeren. Und ein gewisser Monsieur Valjean fragt sich zum gefühlten hunderttausendsten Mal “Wer bin ich?” Mit “Les Misérables” präsentieren die Freilichtspiele in der Spielsaison 2018 einen der ganz großen und unsterblichen Klassiker des Genres, den vielleicht schönsten und packendsten der globalen Musicalgeschichte. Wenn sich damit der Kampf um die Gunst des Publikums nicht gewinnen lässt, mit was dann?
Weltweit mehr als 52 Millionen Menschen haben sich im Laufe der Jahre von diesem bewegenden, 1980 in Paris uraufgeführten Stück zu Tränen rühren lassen. Law-&-Order-Bulle “Javert” fahndete pflichtbesessen in 38 Ländern nach einem harmlosen Brotdieb, während der von Kneipier Thénardier kredenzte Fusel überall gleich mies war.
Sternstunden im Theater am Marientor
In Duisburg war „Les Misérables“ nach der deutschsprachigen Erstaufführung 1988 in Wien von 1996 bis 1999 im eigens dafür errichteten Theater am Marientor zu sehen – bis Stella, die Produktionsfirma, in die Insolvenz schlitterte. Viele gestandene Musical-Stars von heute, aber auch solche, die längst in Rente sind, nutzten damals die Chance, ihr Potential zu zeigen und den Grundstein für steile Karrieren zu legen. Das nachfolgende Video stammt aus der Anfangszeit in 1996 und zeigt eine vollständige Aufführung der Duisburger Produktion. Jerzy Jeske als „JVJ“, Hardy Rudolz als „Javert“, Connie Drese als „Fantine“, der blutjunge Felix Martin als „Marius“ , „Maddin“ Berger als „Enjorlas“ und der unvergleichliche Tom Zahner als zwielichtiger Erlebnis-Gastronom – mit Anne Welte als burschikose Madame an seiner Seite:
In den vergangenen Jahren war es nun zunehmend stiller um Victor Hugos singende Romanhelden geworden. Im Londoner Westend agieren und reüssieren sie zwar unverdrossen weiter, doch in Deutschland sah es dahingehend zuletzt eher mau aus. Von einer ärgerlichen und stümperhaften Plagiats-Version mal abgesehen. Selbige hatte ein zwielichtiger Tourneeanbieter durch die Gegend geschickt, was in Folge sogar die Justiz beschäftigte, weil sich Besucher getäuscht und über den Tisch gezogen fühlten.
Der Brite Cameron Mackintosh ist als Rechteinhaber von „Les Misérables“ ziemlich eigen, wem er die offizielle Lizenz zum Straßenkampf überträgt. Der Schotte gilt als schwieriger Geschäfts- und Verhandlungspartner. Auch weil er wohl höllische Angst davor hat, jemand könnte sein “Baby” verhunzen – wofür es ja in der Vergangenheit auch leider genügend Beispiele gab.
Schon 2006 ein Riesen-Hit in Tecklenburg
Gegenüber den Tecklenburger Freilichtspielen hegt der Mogul solche Vorbehalte offenbar nicht, wenngleich seine Auflagen schon ziemlich strikt sind und der Regie wenig Spielraum für dramaturgische und szenarische Innovationen lassen. Die Münsterländer hatten das damals von Helga Wolf exzeptionell inszenierte Epos bereits 2006 auf ihre große Bühne gebracht – mit einem überragenden und glänzend disponierten Chris Murray als Frontmann. Der hat seinem Nachfolger ziemlich große Fußspuren hinterlassen. Es war die weltweit erste Freilicht-Fassung dieses Stücks. Damit hatten die Lokal-Verantwortlichen dem großen Zampano auf der heutigen Brexit-Insel, und nicht nur diesem, aber eindrucksvoll beweisen können, dass der Stoff bei ihnen in guten Händen war (und ist). Wir erinnern uns: Die wuchtige Produktion erwies sich damals als Riesen-Hit. Höchste Zeit für ein Revival.
Spannung, Erwartungsdruck und Vorfreude
Der auf dem Kreativ-Team lastende Erwartungsdruck ist enorm. Spannung und Vorfreude, wie die hiesigen Routiniers die Kurve wohl beim zweiten Mal nehmen und kriegen werden, sind entsprechend. Auf youtube können die Fans dahingehend etwas in Erinnerungen schwelgen und sich etwas Appetit holen. Dort ist eine Komplett-Aufzeichnung der Tecklenburger Inszenierung aus dem Jahre 2006 eingestellt. Ein Amateur-Video, nur aus einer Kameraperspektive eingefangen – kein professionelles Werk. Der Kameramann dürfte in Folge mehrere Tage Muskelkater in den oberen Extremitäten und Verspannungen im Nacken gehabt haben. Aber er hielt tapfer bis zum Schluss durch. Seine filmische Ausbeute vermittelt einen schönen Eindruck, auf was (und eventuell noch mehr) sich die Besucher gefasst machen sollten. Marc Clear als Javert, Martin Berger als schmieriger Spelunkenwirt – auch diese beiden neben Murray-Valjean eine Klasse für sich:
26 Aufführungen zwischen Juni und September
26-mal soll dieses als dreistündige durchkomponierte Klassik-Pop-Oper ausgelegte Stück zwischen dem 22. Juni und 15. September 2018 am Deutschen Sommer-Broadway aufgeführt werden. Und inzwischen sind auch personelle Details bekannt geworden. Die anspruchsvolle Aufgabe, zunächst in die Sträflingslumpen und dann in den piekfeinen Zwirn des zu Ansehen und Wohlstand gekommenen Bürgermeisters Jean Valjean zu schlüpfen, haben die Spielmacher Patrick Stanke angedient und übertragen. Der Wuppertaler Allrounder genießt (nicht nur) in der südwestlich von Osnabrück gelegenen Festspielstadt hohes Ansehen. Und das nicht erst seit seiner fulminanten Mozart-Performance anno 2008. Im Jahr davor hatte der umtriebige Künstler hier bereits als doppeltes Lottchen in Jekyll & brilliert, um sich dann zwei Jahre später als ägyptischer Feldherr Radames in eine nubische Slavin zu verknallen (Aida). Stanke ließ sich bei den Freilichtspielen als „J.C.“ ans Kreuz nageln (2011) und gab den Axel von Fersen in „Marie-Antoinette“ (2012). Die Tecklenburger greifen immer wieder gerne auf diese Vielzweckwaffe zurück. Einmal, wo auch immer, in einer großen Produktion den Valjean abzuliefern, war schon immer sein Traum. Jetzt geht er in Erfüllung.
Tatort: Kommissar Krolock ermittelt
Den die alte Ordnung mit Zähnen und Klauen verteidigenden Revolutions-Schimanski gibt mit Kevin Tarte eine weitere verlässliche Größe aus der musical-ischen Ober-Liga. Als knallharter Inspektor wird Graf Krolock i.R. sicherlich eine genauso gute Figur machen wie weiland als Obervampir im schwäbischen Transsilvanien. In weiteren Hauptrollen: Milica Jovanovic (Fantine), Florian Peters (Marius), Daniela Braun (Cosette) und David Jakobs (Enjolras). Die Regie liegt in den Händen von Ulrich Wiggers. Im Orchestergraben hat Haus- und Hof-Kapellmeister Tjaard Kirsch das Sagen, während Kati Heidebrecht für die Choreografie verantwortlich zeichnet.
Der Karten-Vorverkauf hat vor wenigen Tagen begonnen. Im Hinblick auf Weihnachten durchaus eine Geschenk-Option. Billetts zum Preis zwischen 35 und 45 Euro können hier geordert werden. Oder halt in der Geschäftsstelle der Freilichtspiele unter der Ticket-Hotline 05482-220.
Keine Experimente, sondern eine klassische Inszenierung
Bereits kurz nach Bekanntwerden der neuen Spielpläne vor einigen Monaten hatte es in der Gerüchteküche zu brodeln begonnen. Man wolle das Stück völlig umkrempeln und die Geschichte, deren zeitlicher Rahmen zwischen 1815 und der gescheiterten Pariser Revolution des Jahres 1832 gesteckt ist, aus dem 17. Jahrhundert in die Neuzeit verlegen, hieß es. “Quatsch”, sagt Intendant Radulf Beuleke. Les Misérables werde absolut traditionell und im Stil der damaligen Handlungs-Epoche inszeniert. Eine Verschiebung von Perspektiven oder sonstige Änderungen seien vertraglich sowieso vollkommen ausgeschlossen.
Große, bombastische Ensembleszenen
Da hätte der Mackintosh-Mann auch nicht mitgespielt. Er behält sich vor, den Tecklenburgern Lizenznehmern bis ins kleinste Detail hinein zu reden. Davon abgesehen wäre es für jeden ambitionierten Theatermacher, der mit Herzblut bei der Sache ist, auch ein Sakrileg und somit unvorstellbar, derart leichtfertig an und in diesem sakrosankten Sujet herum zu pfuschen. Also dahingehend erst mal Entwarnung. Außerdem kommt der klassische “Les-Miz”-Plot den Bühnen-Verantwortlichen in Teck sowieso entgegen. Er beinhaltet neben dramatischen Solosequenzen und romantischen Liebesduetten vor allem eine Fülle kraftvoller Ensembleszenen, die die Hausherren dank ihres immensen personellen Portfolios mit verschwenderischer Men- (und Women-)Power opulent ausfüllen können.
Verrückte Ritter ziehen in den Lach-K(r)ampf
Die Story ist bedrückend und in ihrer Ausprägung schwermütig. Wären die Wirtsleute nicht, es gäbe kaum etwas zu lachen. Was ja eigentlich auch nicht Sinn und Zweck des Ganzen ist. Ein mit viel Kummer, Schmerz, Enttäuschung und Melancholie angereichertes Drama. Aber damit das Publikum nicht dauerhaft in Trauer und Depression verfällt, setzten die Tecklenburger einen aberwitzigen, Comedy-haften Kontrapunkt und riskieren einen Blick auf die schönen Seiten des Lebens. Parole: “Always look on the Bright Side of Life!” Ja da klingelt’s. Monty Python lassen bitten.
Viel Slapstick und absurde Komik
König Artus und seine verrückten Ritter ziehen in den Lach-K(r)ampf. Und ob sie dabei in unnachahmlicher Slapstick-Manier den Heiligen Gral finden oder nicht, ist völlig nebensächlich. “Spamalot” reiht eine absurde Situation an die andere. Das Stück, das im Jahre 2004 die Bühnen-Welt erblickt hatte und bereits am Broadway, im Londoner Westend, in der Schweiz, im Kölner Musical Dome und in vielen anderen Städten und Ländern für Schenkelklopfer sorgte, basiert auf dem Film “Die Ritter der Kokosnuss” und ist eine Verballhornung des Camelot-Mythos. 17 Mal hebt sich dafür der imaginäre Bühnenvorhang. Premiere ist am 20. Juli.
Nimmerland im Münsterland
Und für die Jüngeren und ihre Eltern gibt’s ebenfalls eine volle Packung. Als Kinder- und Familienmusical ist im kommenden Jahr “Peter Pan” gesetzt. Start am 20. Mai. Nimmerland liegt dann bis zum 29. August im Münsterland. 30 Vorstelllungen stehen auf dem Spielplan.
Traditionell und offiziell wird die Saison in Tecklenburg jedoch mit der “Pfingst-Gala” eröffnet. Am 5. Juni gibt’s ab 18 Uhr eine klangvolle Einstimmung auf die bevorstehenden Bühnenfreuden.