Von Jürgen Heimann
Mit dem auf den Lebensmittelverpackungen aufgedruckten Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) ist das auch so eine Sache. Woher weiß der Joghurt, wann er schlecht zu werden hat? Oder die Milch? Meistens halten sich beide sowieso nicht daran. Aber egal: Ist die Deadline überschritten, wird das Zeugs vorsichtshalber in den Eimer gekloppt – auch wenn es in Wahrheit seine besten Tage noch längst nicht hinter sich hat. Auf diese Weise landen jährlich europaweit 89 Millionen Tonnen an unverdorbenen und noch genießbaren Lebensmitteln auf der Müllkippe. Wozu die verschwenderischen deutschen Verbraucher elf Millionen Tonnen beisteuern. Jeder Bundesbürger kippt auf diese Weise pro Jahr zwei prall gefüllte Einkaufswagen mit einem Warenwert von 235 Euro in den Müll. Wir ham’s ja. Weltweit schätzt die Ernährungsorganisation FAO den so zustande kommenden Abfallberg auf 1,3 Milliarden Tonnen per anno.
Am häufigsten landen laut einer Studie Obst und Gemüse (44 Prozent) auf der Deponie. Gefolgt von Backwaren (15 Prozent), Speiseresten (12 Prozent) und Milchprodukten (8 Prozent). Dabei verbrauchen einige Lebensmittel viel Energie bei der Herstellung: Für die Produktion von einem Kilo Käse beispielsweise werden 5.000 Liter Wasser benötigt. Ein Kilo Rindfleisch verbraucht 15.000 Liter des kostbaren und anderswo raren Nasses. So viel säuft die durstigste Kuh in ihrem ganzen Leben nicht.
Die Hersteller legen die Fristen selbst fest
Seit 1981 ist es EU-weit Pflicht, verpackte Lebensmittel gemäß ihrer Lebensdauer entsprechend zu kennzeichnen. Bei uns in Germanien regelt das die “Lebensmittelkennzeichnungsverordnung” (LMKV). Den Herstellern obliegt es selbst, die Fristen zu setzen, wobei sie recht unterschiedlich große “Sicherheitspuffer” einbauen. Was wiederum dazu führt, dass gleichartige Produkte verschiedener Produzenten unterschiedliche “Laufzeiten” haben. Für den Export bestimmte Waren kommen auch schon mal wesentlich “langlebiger” daher als jene, die vor Ort vertickt werden sollen, weil die Wege ins Regal kürzer sind. Die Handelsketten sind natürlich an möglichst langen Fristen interessiert und fordern solche auch bei den Produzenten ein. Da können letztere schlecht „nein“ sagen, sonst macht der liebe Mitbewerber das Geschäft.
Surströmming und Schweineschmalz aus dem Care-Paket
Das allein zeigt schon, dass in Sachen “MHD” nicht alles so heiß gegessen werden sollte, wie es zubereitet wird. Wer jemals Surströmming probiert hat, jene scheußliche schwedische Nationalspeise aus vergorenem Hering, die erst dann als verzehrreif gilt, wenn sich die Dose in alle Richtungen ausbeult und deren Inhalt nach faulen Eiern und Scheiße riecht, der ist dahingehend sowieso völlig schmerzfrei. Und da war ja das Schweineschmalz aus Amerika, dem Prüfer des Rostocker Landesamtes für Lebensmittelsicherheit die Gesamtnote “noch zufriedenstellend” erteilten. Die Dose stammte aus einem Care-Paket aus dem Jahr 1946. Da kann man deren Inhalt eine “leicht alte Note im Bouquet” schon mal nachsehen – auch ohne Verfallsdatum.
Da ist meist noch viel Luft nach oben
Was unterstreicht, dass bei den heute üblichen Zeitspannen, während denen die Waren eigentlich einen Abnehmer finden sollten, schon noch viel Luft nach oben ist. Wobei es andererseits aber auch häufig zu Irritationen und Begriffsverwechslungen kommt. Nicht wenige Verbraucher setzen das “Mindesthaltbarkeitsdatum” nämlich mit dem “Verfallsdatum” (“zu verbrauchen bis…”) gleich. Das aber sind zweierlei Paar Schuhe. Das Verfallsdatum gibt an, bis wann das Ganze mikrobiologisch unbedenklich und ohne Risiken genießbar ist. Damit werden aber nur solche (sensiblen) Produkte gekennzeichnet, die aufgrund ihrer Zusammensetzung und ihrer Herstellungsweise zu irgendeinem Zeitpunkt für mögliche Keimbelastung anfällig sind und deren „Genuss“ dann ein Gesundheitsrisiko darstellen kann.
Mit totem Fisch ist nicht zu spaßen
Verpacktes Hack- oder Geflügelfleisch gehört dazu, entsprechend eingeschweisste frische Bratwurst ebenfalls – und vor allem halbkonservierter Fisch. Bei den Ex-Geschuppten ist sowieso maximale Vorsicht geboten. Die allgegenwärtigen Bakterien tummeln sich schon auf lebenden Unterwasserbewohnern in großer Vielfalt. Sobald mit dem Tod des Tiers das Immunsystem versagt, wandern die kleinen Biester über die Kiemen oder durch die geöffnete Bauchhöhle in das zuvor sterile Muskelfleisch ein. Fischeiweiß ist besonders gut verdaulich – auch für Mikroben. Da sollte man/frau schon in eigenem (gesundheitlichen) Interesse die Finger von lassen, wenn die Uhr abgelaufen ist. Ansonsten riskiert man nicht nur eine Lebensmittelvergiftung.
Beim Haltbarkeitsdatum sieht das anders aus. Es ist streng genommen nur eine auf standardisierten mikrobiologischen Untersuchungen und Geschmackstests basierende Orientierungshilfe und nichts anderes als eine Art Herstellergarantie und eine Rückversicherung, um eventuellen Beanstandungen vorzubeugen. Sie besagt, bis wann sich der Artikel in Punkto Farbe, Geruch und Geschmack bei sachgemäßer Lagerung und ungeöffneter Umverpackung in einem Top-Zustand befinden sollte. Etwas Augenwischerei mag durchaus dabei sein. Man fragt sich schon, warum ein Kelterer auf seinen Apfelsaft sieben, der andere jedoch 24 Monate „Garantie“ gibt. Bei Basmati-Reis ist es ähnlich. Da variiert die Spanne zwischen ein und drei Jahren, während bei wärmebehandeltem Erdbeerjoghurt mal drei, mal sechs Monate drin sind.
Lebensmittel werden nicht auf Kommando schelcht
Ist das Datum überschritten, darf die Ware trotzdem weiter verkauft werden. Viele Lebensmittelhändler räumen darauf dann entsprechende Preisnachlässe ein. Aber so richtig anbeißen mag die Mehrheit der verunsicherten Kunden dennoch nicht. Was den segensreichen Tafeln, die Bedürftige speisen, nur recht sein kann. Und den Herstellern natürlich auch – aus umsatzstrategischen Gründen. Hält ja die Nachfrage auf einem konstant hohen Niveau. Das aufgedruckte Datum sollte deshalb keineswegs als ultimative Aufforderung verstanden werden, das Produkt wegzuwerfen. Der Inhalt wird nicht von einem Moment zum anderen schlecht und ungenießbar. Da ist es sinnvoll, sich ganz einfach auf die eigenen Sinne zu verlassen: anschauen, riechen, schmecken, tasten. Besteht die Ware diesen Test, weiterhin guten Appetit!
Ein wichtiger Richtwert, aber nicht in Stein gemeißelt
Bei Kühlwaren wie Wurst, Käse und Milchprodukten ist das Mindesthaltbarkeitsdatum ohne Frage ein wichtiger Richtwert, auch wenn dieser, siehe oben, nicht sakrosankt ist. Auch hier gibt es Spielraum. Ist die Verpackung der Wurst ungeöffnet, kann man meist bedenkenlos noch ein paar Tage dran hängen. Das gilt auch für Milch. Eine angebrochene Packung H-Milch ist bis zu sieben Tage im Kühlschrank haltbar, Frischmilch etwa drei Tage. Zeigt der Weichkäse Schimmelspuren, weg damit! Bei Hartkäse (Emmentaler, Parmesan) reicht es, die entsprechenden Stellen großzügig auszuschneiden. Der Rest bleibt genießbar. Joghurt kann selbst eineinhalb Jahre nach Fristüberschreitung noch genießbar sein, wie Untersuchungen in einem Labor für Lebensmittel-Mikrobiologie gezeigt haben. Die Proben rochen und schmeckten noch wie ein frisches Produkt. Einzig die Farbe hatte sich verändert. Auch der Nährbodentest belegte: Keine gesundheitsschädlichen Keime. Joghurts für den Lebensmittelhandel werden nämlich vor dem Verpacken noch einmal erhitzt, sodass alle Keime absterben, selbst die darin vorkommenden Milchsäurebakterien. Bei einer intakten Verpackung, können sich deshalb keine Keime bilden oder ausbreiten. Theoretisch könne es sogar sein, dass ein Joghurt noch fünf Jahre nach dem Mindesthaltbarkeitsdatum gut ist.
Eier bleiben im Kühlschrank viermal so lang genießbar
Rohe Eier mit intakter Schale halten sich im Schnitt einen Monat nachdem sie gelegt wurden. Eine Lagerung im Kühlschrank erhöht die Haltbarkeit um das Vierfache dieser Zeit. Sie sollten nach Fristüberschreitung allerdings nur noch zum Backen oder Kochen gebraucht werden – und nicht für Speisen wie Tiramisu. Bei Eiern hilft auch ein einfacher Test zum Überprüfen, wie frisch sie sind: Einfach in ein Glas Wasser legen. Taucht das Gaga ab, ist es gut, schwimmt es oben, ist es alt.
Von Natur und Hause aus langlebige Lebensmittel wie Reis, Nudeln, Tee und Kaffee bleiben sowieso noch weit über das sowieso spät gesetzte “MHD” bedenkenlos genießbar – und das mitunter auf Monate hinaus. Gilt auch für Konserven, Tütensuppen und Getränke wie Mineralwasser, wenn sie kühl und trocken gelagert werden. Und für Zucker, Salz oder Essig ist eine entsprechende Kennzeichnung ja sowieso längst nicht mehr erforderlich.
Greenpeace hatte das im Herbst vergangenen Jahres in einem Langzeittest bewiesen. Mitarbeiter der Umweltschutzorganisation stellten abgelaufene Lebensmittel in einem Zeitraum von insgesamt vier Monaten auf die Probe. Sieben von acht Produkten waren auch noch nach sechs Wochen über der Zeit einwandfrei genießbar. Getestet wurden Eier, veganer Brotaufstrich, Käse, Joghurt, abgepackte Wurst sowie Gebäck, Soja-Joghurt und Tofu. Bis auf den veganen Aufstrich, der bereits 14 Tage nach Ablauf ranzte und müffelte, waren alle anderen Produkte selbst nach 42 Tagen noch nicht verdorben.
Schmidtchen und der Korridor
Nachdem er das Mindesthaltbarkeitsdatum erst in wesentlichen Teilen in Frage gestellt hatte, hatte Ex-Ernährungs- und Agrarminister Christian Schmidt (CSU, um die gängige Verschwendung einzudämmen, später, und zwar 2016, in einem seiner wenigen lichten Momente medienwirksam angeregt, leicht verderblichen Lebensmitteln neben dem Mindesthaltbarkeitsdatum künftig auch ein „Verbrauchsverfallsdatum“ zu verpassen. Damit sollten Konsumenten „einen Korridor erkennen können zwischen Mindesthaltbarkeit und dem tatsächlichen Verfall eines Produkts“. Gehört hat man davon seitdem nix mehr. Gilt auch für die Einführung des seinerzeit von ihm vollmundig angekündigten Staatlichen Tierschutzlabels zur Kennzeichnung von Fleischprodukten.
“Mindestens haltbar bis, aber nicht schlecht nach”
Da sind die Norweger schon etwas weiter. Gut, die Skandinavier schlachten nach wie vor Wale in großem Stil ab, und das mehr als Japan und Island zusammen. Aber bei der Produktkennzeichnung möchten sie zumindest ein Vorbild sein. Etliche, überwiegend landwirtschaftliche Erzeugnisse im Land der Fjorde, darunter Joghurt, Sahne, Säfte und Eier, sind hier bereits mit einem neuen Verbrauchsaufdruck versehen bzw. werden es demnächst: „Mindestens haltbar bis, aber nicht schlecht nach“. Die Tommies in Brexitanien kennen seit Jahren etwas ähnliches. Dort müssen Lebensmittel mit „best before“ oder „used by“ deklariert werden. Hat aber auch nix gebracht. Die abtrünnigen Insualener schmeißen jährlich immer noch 8,3 Millionen Tonnen Lebensmittel weg – 5,3 Millionen Tonnen davon grundlos. Das hat eine Studie der Initiative „Working together for a world without waste“ zutage gefördert. Die britische Food Standards Agency hat zudem festgestellt, dass die Bevölkerung sowieso nichts rechtes mit dieser begrifflichen Zusatz-Kennzeichnung anfangen kann. Insofern sind nicht irgendwelche Formulierungen für das Kaufverhalten ausschlaggebend, sondern einzig und allein das aufgedruckte Datum.
“Intelligente Verpackungen” wechseln die Farbe
“Schmidty”, siehe oben, hatte in diesem Zusammenhang noch einen ganz anderen innovativen Vorschlag aus dem Hut gezaubert: die Deckel von Joghurtbechern mit sensitiven Folien auszustatten, die farblich anzeigen sollen, ob das Produkt noch genießbar ist oder nicht. Elektronische Chips könnten ermitteln, wie sich die Pampe von Tag zu Tag verändert. Eine von Grün bis Rot reichende Farbskala würde dann signalisieren, wie es um die Genießbarkeit stünde. Dann könne jeder Verbraucher selbst entscheiden, ob er sich das noch antun wolle. Der Minister sprach in diesem Zusammenhang von “intelligenten Verpackungen”. Die wären, würden sie eingeführt, zumindest schlauer als er selbst. Als der ministeriale Agrar-Cheflobbyist vor wenigen Wochen entgegen aller Absprachen in der Regierungskoalition eigenmächtig dem hochgiftigen Unkrautkiller Glyphosat zur Laufzeitverlängerung verholfen hatte, hatte es bei ihm noch nicht einmal dazu gereicht, (vor Scham) rot im Gesicht anzulaufen. Und das, obwohl der Mann sein eigenes Verfallsdatum schon vor vier Jahren erreicht hatte.