Von Jürgen Heimann
Das Problem mit den Schnaken ist, dass sie eigentlich keins sind. Aber für ein solches gehalten werden. Und das ist dann wieder ihr Problem. Im Gefolge der von Experten für diesen Sommer prophezeiten Stechmückenplage geht es auch den harmlosen Vettern und Cousinen der Moskitos an den Kragen. Schnaken, auch “Schneider” genannt, mit Helge aber weder verwandt noch verschwägert, mögen allein ob ihrer Größe furchterregend aussehen, gefährlich oder angriffslustig sind sie aber nicht.
Die Zweiflügler haben ein denkbar schlechtes Image. Das aber völlig zu Unrecht. Sie werden für das Unheil, das ihre buckelige Verwandtschaft anrichtet, verantwortlich gemacht. Sie selbst tun nämlich nix – und wollen nur spielen. Stechen und beißen ist nicht ihr Ding. Sie ernähren sich von Nektar und pflanzlichen Säften, sind aber nicht wie ihre in der Regel deutlich kleineren Anverwandten, die “Stanzen”, auf menschliches Blut abonniert, sondern ausgewiesene Vegetarier. Diese mehr oder weniger tapferen Schneiderlein haben nur schwach ausgebildete Mundwerkzeuge, mit denen sie die menschliche Haut gar nicht durchdringen können. Sie hinterlassen insofern auf der Pelle ihrer vermeintlichen Opfer auch keine juckenden Spuren und Quaddeln. Und doch wird ihnen das unterstellt.
Die Langbeine werden bis zu vier Zentimeter groß
Schnaken, deren wissenschaftlicher Name „Tipulidae“ lautet, werden bis zu vier Zentimeter groß und lassen sich vor allem an ihrem graubraunen Körper, ihren schmalen länglichen Flügeln und ihren sehr langen, dünnen Beinen erkennen. Deshalb werden sie vielerorts auch “Langbein” genannt. Die Engländer kennen sie als „daddy long-legs“ (übersetzbar mit „Meister Langbein“ oder „Opa Langbein“). Andere Bezeichnungen sind Keilhacken, Mückenhengste, Hexen, Schuster, Schnegger oder Kothammel. Man verwechselt diese Vertreter hin und wieder auch schon mal mit “Weberknechten”. Das aber sind Spinnentiere, und die haben acht Beine. Schnaken nur sechs.
Weltweit gibt es 4.000 Schnakenarten
Die werden zwar auch zur großen Mückenfamilie gerechnet, unterscheiden sich aber deutlich von aggressiveren Vertretern ihrer Sippe. Siehe oben. Gut, vielleicht nerven die Viecher etwas. Beispielsweise dann, wenn sie um die Lampe im Schlafzimmer oder daselbst einem um den Kopf herum schwirren oder sich „lärmend“ in der Gardine verfangen haben. Mehr ist aber nicht. Und dagegen kann man ja entsprechende Vorkehrungen treffen. Weltweit gibt es etwa 4.000 verschiedene Arten dieser Spezies. In Deutschland sind es etwa 140. Zu den bei uns am häufigsten vorkommenden Arten gehören die Wiesen- und die Kohlschnaken.
Fatale Einteilung in nützlich und schädlich
Nun neigt der Mensch als Krone der Schöpfung ja dazu, andere Lebewesen nach ihrem Nutzen (für sich selbst) einzuordnen – soweit er ihn überblickt. Oder halt danach, ob dieses Kroppzeugs ihn nervt bzw. ihm anderweitig lästig ist. Wer da durchs Raster fällt und keinen existentiellen Mehrwert nachweisen kann, ist überflüssig. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Insekten stehen da ganz unten auf der Ansehensleiter. Aber auch (und gerade) sie spielen eine wichtige Rolle für ein Funktionieren der komplexen Ökosysteme auf unserem Planeten. Und die geht mitunter weit über ihren Part, zur Ernährung “höherer” Tiere beizutragen, hinaus.
Ein Exempel mag das verdeutlichen: In den Tundren beispielsweise treiben (Stech-)Mücken Rentiere zur Wanderung an. Wäre das nicht der Fall und blieben die Hirsche, von den Quälgeistern unbelästigt, stationär an festen Orten, würden sie ihr Umfeld überweiden und eine Versteppung auslösen. Dahinter steckt schon ein ziemlich geniales Drehbuch. Wer auch immer da Regie geführt haben mag, hat sein Handwerk verstanden.
Wichtige Aufgaben im Ökosystem
Insektenlarven ernähren sich in Gewässern von Mikropartikeln und Bakterien, tragen somit zur Reinheit des Wassers bei. Viele Arten fressen im Wald Blätter und Nadeln. Das Pflanzenmaterial wird verdaut, der Kot gelangt in den Boden und wird von Mikroorganismen weiter verarbeitet. So werden die Nährstoffe wieder verfügbar gemacht. Viele Insekten tragen auch zum Abbau von totem Holz bei und fördern den Gesundheitszustand des Forstes. Dies auch, indem sie den Kot und die Kadaver anderer Waldtiere verwerten.
Kerbtiere dienen Vögeln, Fröschen und Spinnen als Nahrung. Und die wiederum erledigen ebenfalls wichtige Jobs im Naturhaushalt. Der gerät aber in Schieflage, wenn sie sich, weil nix oder weniger zu futtern da ist, rar machen oder gänzlich von der Bildfläche verschwinden. Die Wissenschaft sagt, dass eine mückenfreie Welt komplett anders aussähe als die jetzige. Mücken und Würmer, ja selbst Zecken sind so nahrhaft, dass sie einen unentbehrlichen Teil des Nahrungsnetzes darstellen. Würde man alle als “Parasiten” gebrandmarkten Kreaturen ausrotten, ein Großteil anderer Lebewesen würde verhungern. Der Mensch steht am Ende dieser (Nahrungs-)Kette. Irgendwann trifft es ihn auch. Spätestens dann, wenn diese fliegenden, summenden und brummenden Gesellen ihrer für den Homo sapiens so existentiellen Bestäuberrolle nicht mehr gewachsen sind – mangels Masse.
Ohne Insekten keine Nahrungsmittel
Etwa 80 Prozent aller Kulturpflanzen – Bäume und Sträucher ebenso wie Beeren und Getreide – werden von Insekten bestäubt. Darunter befinden sich nahezu alle Obst- und Gemüsesorten. Tun sie das nicht mehr, regiert bei der Menschheit in Gänze über kurz oder lang Schmalhans als Küchenmeister. Weil fatale Einbrüche bei der Nahrungsmittelproduktion die Folge sein werden. Schon jetzt müssen manche Pflanzen teils von Menschen mit Pinseln befruchtet werden, um Früchte zu entwickeln. Deshalb sollten wir auch das „Insektensterben“, von dem in diesen Tagen immer öfter die Rede ist, nicht auf die leichte Schulter nehmen. In Deutschland gelten laut “Roter Liste” inzwischen 45 Prozent der Wirbellosen als gefährdet. In manchen Regionen sind bis zu 40 Prozent der Fluginsekten vom Aussterben bedroht. Als Ursache dafür haben Experten neben dem Klimawandel und der Überdüngung der Böden vor allem auch den hohen Pestizideinsatz in der industriellen Landwirtschaft ausgemacht.
Gut, ich würde auch nicht tatenlos zusehen wollen, sollte ein blutgieriges Moskitoweibchen seinen Rüssel in meine Alabsterhaut rammen. Irgendwann ist da die Toleranzschwelle überschritten und es greifen die natürlichen Mechanismen der Selbstverteidigung. Aber man sollte generell mal über diese Punkte nachdenken, bevor man irgendein unbekanntes ein Insekt achtlos zerquetscht bzw. In einen roten Punkt auf und an der Wand verwandelt